ALL OVER

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Stellt die Verunsicherung angesichts der Installationen von Diana Cooper den Betrachter vor allem vor ein hermeneutisches Problem, so konfrontiert ihn Heike Weber mit einem eminent körperlichen: Ihre Wand- und Bodenzeichnungen mit Permanentmarker auf großflächig ausgelegtem PVC3 lenken den Blick auf den eigenen Standpunkt, der ins Wanken gerät, wenn Webers zeichnerische Gesten in einem alle Schranken brechenden All Over den Raum fluten, alles Starre, Festgefahrene und Fixierte pointiert überwuchern und unterspülen.4 Heike Weber, die seit den späten 1990er Jahren immer wieder mit technisch außergewöhnlichen, den Betrachter fordernden Raumzeichnungen auf sich aufmerksam gemacht hat, sagt von sich selbst, sie "arbeite wie ein Seismograf und zeichne ein Echo des Raumes."3 Von den realen Gegebenheiten, von Treppen, Pfeilern und Türstöcken ausgehend, überzieht sie etwa die Bodenfläche der Kunsthalle Wien mit einer dynamisch pulsierenden roten Lineatur, die an Schallwellen erinnert. Als sei sie von einem horror vacui getrieben, staucht und verdichtet sie in einem langen Prozess das Weiß des Bodens, das als Folie für die Entstehung der Zeichnung integraler Bestandteil der Arbeit ist. Die Zeichnungen, die Heike Weber wie eine zweite, grafische Haut dem Raum einschreibt, sind in zweierlei Hinsicht prozessbetont: Zeit wird in ihnen nicht nur durch die wellenartig sich ausbreitenden Linien veranschaulicht; auch die Bewegung des Betrachters im Raum und seine sukzessive Erfahrung der Arbeit ist für Heike Weber ein maßgeblicher Faktor. Dabei kommt es zu einer Art energetischer Verwandlung. Der gestische Input, das körperliche Bearbeiten des in alle Richtungen sich dehnenden Bildträgers, scheint umzuschlagen in eine nun ihrerseits den Betrachter vereinnahmende Bewegung. Die Künstlerin umkreist ihren Bildgrund und lässt zugleich den Bildgrund um den Betrachter kreisen. Der vormals genuin intellektuelle Akt der Wahrnehmung wird zur körperlichen Erfahrung. Der in diesem Liniengeflecht umherwandernde Betrachter verliert bald jede Orientierung, gerät in eine Art perspektivischen Taumel und sucht seh-krank nach Halt: "BODEN LOS" (2006).

3 Zur Funktion des PVC bei Heike Weber als pragmatisch gewähltes Material, als Dispositiv, Modell und optisch-emotionaler Effekt: Stephan Berg: Der Eigensinn des roten Fadens. In: Zeichnung heute IV. Kat. Kunstmuseum Bonn 2003, S. 13-19.

4 Für die temporäre Raumarbeit "Utopia" (2007) im Museum Bochum etwa verwandelte die Künstlerin den gesamten Raum inklusive Boden und Decke mit PVC als Trägermaterial in eine dreidimensionale Zeichenfläche, in einen neutralen Raum, der erst durch die Zeichnung in seinem Potential erfahrbar wird. Für einen Überblick der Raumarbeiten Heike Webers: www.heikeweber.net/installations_de.html.

5 Heike Weber: "Ich arbeite wie ein Seismograf und zeichne ein Echo des Raumes". Ein Interview mit Stefan Rasche. In: Skulptur als Feld. Kat. Kunstverein Göttingen, Ostfildern-Ruit 2001, S. 94 f. HEIKE WEBER, BODEN LOS, 2006, Permanentmarker auf PVC, 600 qm, Kunsthalle Wien, Foto [1]: Raimo Rudi Rumpler, Wien [s.a. Foto 4: Heike Weber]

VERTIGO

Gleichgewicht und Bodenhaftung, Stabilität und Destabilität - eigentlich skulpturale Kategorien - sind die zentralen Themen in Heike Webers zeichnerischen Arbeiten.6 Mit ihren installativen Raumzeichnungen bildet sie die wohl markanteste in einer Reihe von Positionen, die mit der Ausweitung zeichnerischer Konzepte in den Raum eine physische Wirkung intendieren, die nicht nur das tradierte Bild-Betrachter-Verhältnis aushebelt, sondern mit der Irritation und Veränderung der gewohnten Parameter räumlicher Wahrnehmung die körperliche Erfahrung von Raum hinterfragen lässt.

Indem Heike Weber mit ihrem Marker einem Raum bis in all seine Unregelmäßigkeiten folgt und diesen Akt des Nachvollzugs von außen nach innen permanent wiederholt, dabei auch jede Störung der ursprünglichen Linie getreulich wieder aufgreift, "verwandelt sich der initiale Verortungsgestus aber auch in sein Gegenteil und wird zur Erfahrung von Labyrinthik und Desorientierung"7. Die unzähligen, grenzenlose Tiefe suggerierenden Schleifen der Zeichnung lösen Vertikalen, Horizontalen und rechte Winkel als Konstitutionselemente des menschlichen Raums zumindest partiell auf. Anstatt den Raum zentralperspektivisch zu vernetzen oder statisch zu verorten, entfalten Webers Linien eine Dynamik, die von Raum und Betrachter gleichermaßen Besitz ergreift. In diesem Ansatz, "den Betrachter körperlich in meine ‚Bilder' einzubeziehen", sieht die Zeichnerin ihre Nähe zu Alfred Hitchcock begründet: Wie der Regisseur von "Vertigo" durch seine subjektive Kameraführung den Betrachter in die Handlung hinein zieht und ihn dann in einen ständigen Schwebezustand des Argwohns versetzt, so schickt Heike Weber ihren Betrachter mitten in eine architekturbezogene Boden- oder Raumzeichnung, die dieser erst durch seine verunsicherten Bewegungen vervollständige.8

6 Vgl. Doris Krystof: Shifting the Ground. Heike Webers zeichnerisches Fundament. In: Heike Weber. f.o.b. Kat. Galerie Stefan Rasche, Münster 2000.

7 Berg 2003 (wie Anm. 25), S. 14.

8 Vgl. Heike Weber. Ein Interview von Gerald Matt. In: Vertigo. Kat. Ursula Blickle Stiftung, Kraichtal 2001.

Wer hoch fliegt, fällt tief: Himmelwärts strebende und in Abgründe stürzende Figuren wie der notorische "Ikarus" im Kunstmuseum Bonn (2003) oder die temporär über der Treppe der Kunsthalle Baden-Baden "Fliegende Frau" (2004) scheinen in einer Art Momentaufnahme vor der Wand und gleichzeitig in dem sich hinter ihr öffnenden Raum zu fliegen.9 Heike Weber legt diese großformatigen figuralen Zeichnungen mit Fenstermalfarbe an, fixiert dann die Linien mit dünnen Nadeln an der Wand, um schließlich den Papiergrund zu entfernen und die Zeichnung in Nadellänge vor der Wand zu positionieren. Bemüht Heike Weber in diesen illusionistischen Arbeiten über den (Alb)Traum vom Fliegen unsere Phantasie als Flugsimulator, so lässt Katharina Hinsberg die Besucher ihrer jüngsten Ausstellung in der Karlsruher Kunsthalle an einer konkreten Reihe von bildkünstlerisch motivierten Flugversuchen teilhaben.
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Vgl. Martin Engler: Heike Weber. In. Kat. Gegen den Strich 2004 (wie Anm. 1), S. 138 f.

Fritz Emslander