HEIKE WEBER
BAROCKE WELTEN UND WEIßE ZELLEN
Der Barock […] krümmt die Falten um und um. Treibt sie ins Unendliche, Falte auf Falte, Falte nach Falte.
Die ins Unendliche gehende Falte ist das Charakteristikum des Barock.(Gilles Deleuze: Die Falte, Leibniz und der Barock.)
Der vielleicht faszinierendste Moment der Arbeiten Heike Webers bleibt dem Ausstellungsbesucher
verborgen: Zumindest realiter – am Anfang nämlich ist alles weiß, makellos weiß: Bevor der eigentliche,
zeichnerische Akt beginnt, bevor Weber dem Ort mit kräftig farbigen Permanent-Markern zu Leibe rückt,
wird der gesamte Raum in ein dreidimensionales Blatt Papier verwandelt. Das mit weißem PVC ausgeschlagene,
temporäre Arbeitsfeld der Künstlerin formuliert einen Projektionsraum, in dem der Betrachter den
Entstehungsprozess der Boden- und Wandzeichnungen als poetisches Nachbild wieder findet. Eine Weiße
Zelle, die nur mehr als Behauptung existiert, als notwendigerweise verschwindende ästhetische
Hintergrundfolie, die von der in situ entstandenen Zeichnung ausgelöscht wurde.
Langsam wird dieser temporäre Arbeitsplatz angefüllt mit reduzierten zeichnerischen Gesten, die in
einem gemächlichen, dabei gleichwohl arbeitsintensiven Prozess den Raum fluten. Eine über mehrere
Tage anschwellende Flut, die von den raumbestimmenden Koordinaten ausgehend langsam den gesamten Ort
einnimmt. Die sanft ausschwingenden Linien, die sich von Pfeilern und Wandnischen, von Treppenstufen
oder Raumecken angestoßen in den Raum ergießen, entwickeln dabei eine ungeahnte Wucht und
Verdrängungsmasse: Aus den minimierten zeichnerischen Lineaturen, kleinstmöglichen Ausdrucksträgern,
wird ein flächiges, alle Schranken brechendes Over All. Die Geste gewinnt im Referenzrahmen der
Weißen Zelle serielle Dynamik und bündelt sich zum schwingenden, raumflutenden Rapport.
Diese Fundierung ihrer Arbeit in der Idee eines neutralen, erst durch die Zeichnung in seinem Potenzial
erfahrbaren Raums, positioniert Heike Weber bewusst in kritisch reflektierter Tradition zur Minimal Art.
Mit Judds Kuben, Andres Platten oder Morris’ seriellen Objekten wird zum ersten Mal die Bezüglichkeit
der Kunst zu ihrem neutralen Raum fokussiert. Durch deren auf den ersten Blick strenge, vollkommen
ereignislose Specific Objects wird der reale Ausstellungsraum, ein noch sehr formalistisch aufgefasster
Kontext, als zentrale Kategorie eines neu sich formierenden Werkbegriffs greifbar. Frank Stellas
„What you see, is what you get“ allerdings, der Wunsch dieser heterogenen Künstlergruppe im
nach-modernistischen New York der 1960er Jahre, in radikaler Weise den Betrachter und seine Wahrnehmung
zum konstitutiven Moment ihrer Kunst zu machen, wird von Weber modernistisch-‚buchstäblich’ beim Wort
genommen. Und gibt damit dem gestrengen, materialfreudigen Formalismus der Amerikaner eine Wendung
ins Handschriftlich-Subjektive: Die Realität des Raumes wird Strich für Strich, Linie um Linie in
klassischer Weise bestätigt, um schon im nächsten Moment aus den Fugen zu geraten.
Der gestische Input, das körperliche Bearbeiten des in alle Richtungen sich dehnenden Bildträgers,
scheint umzuschlagen in eine nun ihrerseits den Betrachter vereinnahmende Bewegung. Nicht das Objekt
der Betrachtung findet sich in seiner unvereinbaren Vielansichtigkeit vorgeführt, sondern das
Spezifische Objekt schlägt zurück. Der vormals genuin intellektuelle Akt der Wahrnehmung wird zur
eminent körperlichen Erfahrung, wenn das gesamte Raumgefüge von den oszillierenden Linien erfasst wird,
wenn Wand und Boden, Treppen und Ecken gleichermaßen zum vielschichtigen Gegenstand der Wahrnehmung werden.
Was Heike Weber unternimmt, ist eine jener schon sprichwörtlichen Erweiterungen des Werkbegriffs der
Moderne. Wobei sich ihre Dehnungen und Weitungen der Tradition in spannender Weise selbst beim Wort
nehmen und in immer neuen, das Medium und seine Wahrnehmung umkreisenden Formulierungen den Raum
vermessen und in Bewegung bringen. Dass diese vielfältigen Weitungen der Begrifflichkeit zugleich die
Idee des Zeichnerischen grundlegend neu buchstabieren und daraus immer neue Lesarten ihrer Räume
generieren, lässt den für die Minimal Art und deren nachfolgende Ismen so zentralen Begriff der Realität
wunderbar schillernd und biegsam erscheinen. Neben den gleichsam beiläufig – mit wenigen Strichen oder
Schnitten – vereinnahmten Realraum tritt das gesamte banale Inventar des Alltäglichen. Denn das Medium
der unterschiedlichen zeichnerischen Unternehmungen ist nur als Ausnahme zur Regel der in klassischer
Weise geführte Stift. Mit Wäscheleinen oder Haarnetzen, mit Teppichboden oder Schlauchlicht, mit
Video-Loops, auf PVC oder mit Fensterfarbe auf Nadeln wird die vermeintliche Flächigkeit der Zeichnung
Lügen gestraft.
Die spezifische Objekthaftigkeit der Minimal Art, deren ‚neue’ dreidimensionale Objekte weder Malerei
oder Skulptur sein wollen und doch von beiden wesentliche Aspekte übernehmen, denkt Weber konsequent
zu Ende. Die reduzierte Geste gewinnt einen Körper, der Strich tritt in den Raum, und Skulptur und
Zeichnung werden zu kommunizierenden Gefäßen. An den Rändern der nun nicht mehr eindeutig zu scheidenden
Ausdrucksformen bilden sich vielfältige Durchdringungen, die Geste und Raum, Körper und Skulptur in
jeweils neue Beziehungen setzen. Die langsam in den Raum flutenden Linien, die fachgerecht in Teppichböden
geschnittenen Windungen einer großformatigen Endlosschleife oder die über die Wand mäandernde Wäscheleine
gewinnen ein nur schwer zu fassendes Eigenleben. Boden und Decke beginnen frei zu flotieren, Wände kommen
ins Rutschen, und ein kopfüber ins bodenlose stürzender Ikarus wird nur noch von hauchdünnen Nadeln gehalten.
Die Einfachheit der Geste, die Strenge der Versuchsanordnung und die Nüchternheit der eingesetzten Mittel,
das Erbe also der alten Herren und ihrer Spezifischen Objekte wird mit List gegen sich selbst gekehrt.
Minimal sind hier einzig die rudimentären Spielregeln und formalen Vorgaben. Was Weber daraus macht, hat
bei aller vorgetragenen Reduktion mehr gemein mit betörender sinnlicher Komplexität und einer zielsicher
orchestrierten Uneindeutigkeit. Die neutralisierten und geklärten Räume scheinen die über Tage investierte
und gespeicherte Energie nun wieder abzustrahlen als Moment der Fülle und Sättigung, als überbordende
Sinneslust und barocke Fülle. Die Grenzen von Wand und Boden verunklären sich, werden verdichtet und
gestaucht. Dicht an dicht gesetzte, Fläche und Raum gleichermaßen dynamisierende Linien und Strukturen
lassen an sichtbar gemachte Schallwellen ebenso denken wie an dekorative Ornamentik. Und wie in der Malerei
der frühen Moderne sprengt der bildbestimmende Rapport die Flächen und bringt den Raum ins Taumeln. Wie
auf den Tapeten oder Teppichen Matisses, wie in den ihre Eigenweltlichkeit behauptenden Oberflächen Cezannes
drängen Ornament und Struktur den tradierten dreidimensionalen Raum aus dem Bild. Der gesamte Raum wird so
zum Bildträger, der unter Ornament und Muster, unter Arabeske und Rapport zur Gänze zu verschwinden droht.
Anstatt zentralperspektivischer Vernetzung und statischer Verortung umfängt den Betrachter ein barocker,
die Orientierung raubender Horror Vacui, der im überfluss des Rapports Zentrum und Hierarchie negiert.
In einem eigenwillig interpretierten Ortsbezug wird dem Raum seine ursprüngliche Realität ausgetrieben –
oder besser: wird diese Realität erster Ordnung mit einer zweiten, künstlichen überzogen. Wie in einem
Trompe-l’œil oder einer illusionistischen Deckenmalerei werden die Gegebenheiten des Raums zugleich
bestätigt und verschleiert, verschmelzen die Gattungen und wird der Betrachter eingebunden in eine
allumfassende theatralische Inszenierung: Jene neue, künstliche Realität legt sich Falte um Falte,
Strich um Strich um die Wahrnehmung des Betrachters. Vergleichbar den himmelstürmenden Deckengemälden
oder den zwischen Stuck, Malerei, Licht und Architektur sich verflüchtigenden Inszenierungen barocker
Paläste oder Kirchen dehnen die zeichnerisch-skulpturalen Interventionen Webers die Begrenzungen des
Ortes gegen unendlich. Barocke, dabei zugleich in spezifischer Weise ortsbezogene Raumstrudel erfassen
den Betrachter.
Mit ihren zielsicher orchestrierten Raumschöpfungen zwischen Minimal Art und Barock, zwischen Over
all und Weißer Zelle entwickelt Heike Weber einen Moment performativer Dynamisierung: Halb minimalistische
Halluzination, halb in Zeitlupe tänzelnder Pollock, umkreist Weber ihren Bildgrund und lässt zugleich den
Bildgrund um den Betrachter kreisen.