Fadenschlag zwischen Ost und West

Heike Weber fürchtet sich. Sie ist im Rahmen eines Austauschprogramms für zwei Monate in die Türkei eingeladen. Dieses grosse Land weckt bei der grossgewachsenen blonden Deutschen, die während ihrer Reise schon äusserlich auffallen wird, ein mulmiges Gefühl.

Noch kniet Heike Weber im Kunsthaus Langenthal und zieht rote Linien auf den weissen Boden. Ihre Zeichnung Isohypse soll den Boden ins Schwanken bringen und prüfen, wie schwindelfrei das Publikum der Ausstellung "fragile" ist. Während Tagen zeichnet die Künstlerin und erzählt von der bevorstehenden Türkeireise und ihren Befürchtungen. Die Türkei ist das grosse fremde Land, das zwischen traditionellen und modernen Werten, zwischen urbanen und ländlichen Lebensstilen auf seiner Kandidatur für eine EU-Mitglieschaft beharrt, ebenso wie auf seiner islamischen Kultur. Zerbrechlich demokratisch, entwicklungsbedürftig, muslimisch – was lässt sich nicht alles über die Türkei sagen.

Weshalb fürchtet sich Heike Weber vor diesem Kulturraum? Ausgerechnet ihr ist nämlich zuzutrauen, dass sie dieses Land versteht. Ihr, die sie den Faden bereits im Namen trägt. Eingewoben in die familiäre Herkunft, herausgesponnen aus der Berufsbezeichnung der Ahnen und ganz selbstverständlich als Material in der eigenen künstlerischen Arbeit verwendet: der Faden, das Seil, der Strick, der Strich, die Linie. Es ist für Aussenstehende ein roter Faden zu erkennen, auch bezüglich der anstehenden Reise durch die Türkei. Wie Ariadne auf ihrem Weg durch Minotaurus' Labyrinth führt auch Heike Weber einen Faden mit sich, den sie selber vielleicht gar nicht immer wahrnimmt. Dieser Faden zieht sich durch ihr gesamtes Werk und sorgt dafür, dass selbst luftige Installationen, Himmelszeichnungen, weissverschneite Berggipfel und sinnliche Mädchenträume pragmatisch und bodenverhaftet bleiben. Die Künstlerin zeichnet, doch sie tut dies so handwerklich, dass es sehr an spinnen, weben, wickeln, knöpfen, fadenschlagen, verstäten erinnert. Heike Webers Zeichnungen sind Geschichten, gewoben vielleicht aus Seemannsgarn und verwickelt wie die Passagen aus 1001 Nacht. Höhenkurve, Silhouette, Meteorologie, Wellenschlag oder Moskitonetz – ihre Linien aus Filzstift, Leine, Teppich oder Silikon können alles darstellen. Die Künstlerin überzieht festgefügte Räume mit Linien, bis Wände, Decken, Böden zu schwanken beginnen und textile Falten werfen. Ihre Bergpanoramen schlängeln sich durch enge Treppenhäuser und in ihren Netzen verfängt sich das Publikum. Soviel Handwerk, soviel Werkzeug und gleichzeitig intuitives Begreifen, emotionaler und ästhetischer Ausdruck – wenn das nicht reichte für interkulturelle Verständigung, stünde es schlimm um Orient und Okzident.

Nun reist Heike Weber also in die Türkei und schon bald verschickt sie Mails mit Betreffen wie "Simsalabim" und etwas später "der Orient hat mich". Die Künstlerin schildert darin soziopolitische Kunstprojekte der türkischen Gastgeber, Spaziergänge durch Istanbuls Viertel, Begegnungen in Izmir, die Dachterrassen über dem Goldenen Horn oder fremde Speisen. Von Mal zu Mal traut sich Heike Weber weiter hinaus, von der Istanbuler Flaniermeile Istiklal Caddesi und dem Taksimplatz weiter bis zu einer Reise nach Diyarbakir, von den vertrauten Falafel zu Gözleme und der Bergorchideenmilch Sahlep, auch saurer Rübensaft Salgam und frische Pistazien gehören dazu. Es sind dies Nachrichten davon, wie sich Heike Weber einlässt auf den Raum, die Kultur, die Geschichten. Die Künstlerin entdeckt die Schönheit, die Freundlichkeit, die Intensität der Türkei und ihrer Menschen. Bald beklagt Heike Weber die nahende Abreise, zwei Monate sind eben doch sehr kurz – wie es sich gehört, kehrt sie nicht ohne Orientteppiche zurück.

Allerdings hat die Künstlerin die Teppiche nicht auf dem Bazar gekauft, sondern hat sie selber geknüpft, respektive aus Silikon gezeichnet. Die Dichtungsmasse spannt sich zu filigranen Orientzeichnungen. Der Orientteppich ist darin unmittelbar zu erkennen und an Schönheit können es Heike Webers Werke mit den Originalen aus Wolle und Seide aufnehmen, doch die Funktionalität der Orientzeichnungen ist stark eingeschränkt. Denn zwischen den einzelnen Fäden des Silikons klaffen Lücken, vom echten Orientteppich bleibt nur das abgezeichnete Muster, Farben und polsternde Flächen fehlen. Wieder erzählt Heike Weber mit Linien und den dazugehörenden Zwischenräumen eine Geschichte, eine Geschichte vom Raum und unseren Vorstellungen davon. Wir suchen mit allen Vorurteilen das Schöne im Orient, die prächtigen Muster, die Architektur der Moscheen und Paläste und sparen dabei doch viel vom alltäglichen Leben aus: Wir erstehen uns als Reisesouvenir in einem Teppichgeschäft einen Läufer zu einem vorteilhaften Preis und merken nicht, welche Lücken in unserer Wahrnehmung ungestopft bleiben, welche Löcher die Teppiche in sich tragen. Heike Webers Orientzeichnungen machen diese reduzierte Wahrnehmung sichtbar, indem sie Fragmente bleiben und so einen Fadenschlag zwischen den Kulturen in Ost und West bilden.

Fanni Fetzer