Gerade noch

Gesehen habe ich die Haarnetze an den weißen Wänden des Ateliers von Heike Weber. Das heißt, ich habe sie gerade noch gesehen. Vielleicht habe ich auch nur den Schatten der hauchdünnen Verspannung gesehen. Es ist schwer zu sagen, was man wirklich sieht. Die Netze selbst sind eher Erscheinung. Erscheinung wie ein Flusen, der vor der Pupille tanzt. Schnell denkt man, das ist Einbildung, Irritation der Netzhaut, alles nur in deinem Kopf. Ist es aber in diesem Fall nicht. Das Ganze ist kein phänomenaler Augentrick, kein veristisches trompe l'oeil, keine Bewußtseinsfalle, denn dagegen steht die geometrische Form des Rechtecks, die das Hirngespinst in Grenzen hält. Die vier Nägel, an denen das Haarnetz befestigt ist, bilden die Eckpunkte des Gevierts und setzen dem Verwirrspiel ein Ende.

Diese Durchschaubarkeit liebe ich an Kunst. Sie verführt, doch entläßt auch wieder. Was zurückbleibt, ist die Erinnerung an eine Faszination. Da war etwas, ein visueller Hauch, eine zarte Berührung der Augen. Angesichts des Flirrens der feinen Netze fühlt man den Sehsinn körperlich werden. Daß dies anhand von Haarnetzen geschieht, spielt hier, im Atelier keine große Rolle. Heike Weber entnimmt den unscheinbaren Gebrauchsartikeln ihre Materialität und malt mit ihnen Bilder.

DORIS KRYSTOF
Pontecuti, 21.9.95