Sabine Elsa Müller

Heike Weber – Meta Physis

Heike Webers zeichnerischen Interventionen rekurrieren immer auf eine reale Gegebenheit. Im Gegensatz zu ihren Böden, Wände und Decken als freie Handzeichnungen überwuchernden Raumzeichnungen, die unmittelbar von genau dem Raum ausgehen, in welchem sie sich ausbreiten, handelt es sich bei den Kordelzeichnungen um einen invasiven Einfall einer externen Vorstellungswelt. Mit dem Prototyp dieser Werkgruppe, der im Jahr 2000 realisierten Installation „White Out“, wurde ein alpiner Erfahrungshorizont ins holländische Maastricht verpflanzt. Im makellos weißen Raum des Hedah (Centrum voor Hedendaagse Kunst) breitete sich ein unerhört attraktiver Fries aus roter Wäscheleine an silbernen Dekonadeln entlang über die Wände.

Die aus verschiedenen Alpenpanoramen zusammengesetzte lose Verkettung von steigenden und fallenden Linien, Schleifen und Kringeln warf die majestätische Landschaftsform als zweifaches Trugbild an die Wand. Einmal als in der Luft schwebende, trotz ihrer signalhaften Optik labile Konstruktion aus einer Halt suchenden Leine, an der sich nichts festmachen lässt, und zum anderen als zarte Schattenlinie, die sich in einem lichten Moment als die eigentliche Zeichnung an die Wandfläche zu heften schien, um sich ebenso schnell wieder zu verflüchtigen.

Die mangelnde Evidenz der Erscheinungen macht das vorgebliche Versprechen einer panoramahaften Übersicht zunichte. Stattdessen spielt sich im Bereich zwischen Wand und Kordelzeichnung das ganze Drama der Desorientierung ab: In diesem Abstand von der Wand gleitet der Blick ins Leere. Mit dem Verlust der Bodenhaftung geht eine jähe mentale Erfahrung einher. Hier lösen sich die Grenzen zwischen Rationalität und Irrationalität auf. Es ist dieselbe Kluft wie zwischen dem Geschwindigkeitsrausch des den Berg hinabjagenden Skifahrers und seiner in den Schnee eingeschriebenen physischen Spur, wie Heike Weber in derselben Ausstellung in einem Video nachvollziehbar macht, das mittels einer an ihrem Körper befestigten Kamera während einer solchen Fahrt aufgenommenen wurde.

Die Materie ist in ständiger Bewegung. Sie ist ein Spielball pulsierender Energiefelder, die das Leben antreiben, es aber auch extrem durcheinander bringen oder auslöschen können. Auf die Linie reduziert, schafft sie sich einen Körper durch einen dreidimensionalen Illusionismus wie den der isometrischen Parallelperspektive, deren dynamische Bewegtheit durch das Licht reguliert wird. Dessen Schattenzeichnung potenziert die räumlichen Verhältnisse in einer mit der Raumwirkung des Barock vergleichbaren Dimension.

Dann wieder erheben sich zerfasernde Körpersilhouetten aus Fenstermalfarbe aus der Erdenschwere wie aus Platons Höhle. Die Körper haften nur durch ihre Schatten und das zierliche Gerüst der Nadeln an der Fläche. Als fliegende und stürzende Gestalten lösen sie sich von der Wand und lassen ihre entmaterialisierten Hüllen zurück. Es sind Lichtgestalten zwischen Himmel und Erde, die sich förmlich im Licht auflösen – wie Ikarus, seit jeher das Urbild des sich über alle Grenzen erhebenden und selbst das Scheitern in Kauf nehmenden Künstlers.