Petra Oelschlägel

Heike Weber

Heike Weber knüpft mit dem Titel der Ausstellung 23 an ihre früheste Arbeit an, die sie hier erstmals wieder ausstellt. 1993 hat sie mit den Kästen im Kölnischen Kunstverein reüssiert und seitdem ein äußerst beachtliches und konsequentes Oeuvre erstellt. In den 23 bis heute vergangenen Jahren schuf sie immer wieder Kunstwerke, die an frühere anknüpfen: bei aller Frische und Vielseitigkeit ihres Werkes ist die Behandlung bestimmter Fragestellungen von großer Kontinuität gekennzeichnet. 1998 war Heike Weber bereits zu einem Salonstück in die damalige Städtische Galerie Villa Zanders eingeladen und fertigte mit einer aufwendigen Bodenzeichnung, in der sie den gründerzeitlichen Grünen Salon durch rote Linien auf weißem PVC in Schwingung versetzte, eine den Betrachter verunsichernde und für ihr eigenes Werk bahnbrechende Arbeit.

Jetzt eröffnet sie in der Ausstellung 23 einen Blick auf zahlreiche Facetten ihres Werkes, in dessen Zentrum das Prinzip der Vernetzung steht: In der frühesten Arbeit Kästen von 1993, einer Aufreihung von zarten, weißen Styroporkörpern im Raum, arbeitet die Künstlerin mit dem Phänomen des Abtragens und Wegnehmens. Auch hier nimmt sie den banalen Dingen und Massengütern – wie später Gummiringen oder Haarnetzen - ihre Materialität, indem sie standardisierte Styroporplatten aus dem Baumarkt so lange raspelt und schleift bis sie eine nur 1 mm dünne, zarte und poetische Oberfläche erhalten. Das Vorhandene und das Abwesende sind gleichermaßen bedeutsam, die Wirklichkeitserfahrung kommt einer Grenzerfahrung gleich. Die strenge Form des Quaders kontrastiert mit der beinahe beängstigenden Verletzlichkeit und Zartheit des Materials, das sich beim leisesten Windhauch und bei der Bewegung des Betrachters selbst in Schwingung versetzt - es „atmet“ menschengleich. Die künstlerische Handschrift Heike Webers manifestiert sich in der Linie. Sie zeichnet mit Grafit, Acrylfarbe oder Silikon, sie spannt die Linie mit Kordel, Fenstermalfarbe oder Netzen im Raum, doch immer dominiert der Eindruck von Direktheit und Unmittelbarkeit einer Zeichnung. Dabei ist trotz der einfachen Definition von Zeichnung als einer Linie auf Grund das Dazwischenliegende, die ungefüllte Leerstelle von immenser Bedeutung. Genau dieses Spannungsverhältnis zwischen dem „Etwas“ und dem „Nichts“, zwischen zuweilen barocker Opulenz und kaum zu steigernder Reduktion verleiht Heike Webers Werken eine Einzigartigkeit und Wirkung, die bei vielen Betrachtern dauerhaft eingeschrieben bleibt. Ihre Kunst wirkt nach.

Heike Weber bearbeitet skulpturale Fragestellungen im Medium der Zeichnung. Diese hat den engen Bezug zum Körper und gleichzeitig eine stark ausgeprägte geistig-konzeptionelle Komponente. Zeichnerische Konzepte im Raum verbinden Körperlichkeit und Intellekt und fordern auch in der Betrachtung beide Wahrnehmungsebenen heraus. Das von Heike Weber in dieser Ausstellung thematisierte Netz stellt einen Spezialfall einer Linienstruktur dar. Die Reduktion von Material ist im Netz – ganz besonders in der Installation network, 1996/2016 - auf die Spitze getrieben. Die verwendeten Netze sind ein dehnbarer, flexibler Hauch von Material aus Linien und Knoten, sie sind Fülle und Leere gleichzeitig. Heike Weber hat diese mehr als 600 Haarnetze zu etwa 28 x 20 cm großen Rechtecken gespannt. Die unspezifische Form des Netzes ist durch die Befestigung auf vier feinen Nadeln in eine klare Form, bzw. in ein Raster überführt worden. Die hauchdünnen Verspannungen, deren Schatten ein belebtes Spiel auf der Wand führen, sind eine Herausforderung für die menschliche Wahrnehmung. Abhängig vom vorhandenen Licht sieht man die Netze oder die Wand – oder auch mal beides. Die Zartheit des künstlerischen Eingriffs, die Sensibilität der „gezeichneten“ Linie aus Netz oder Schatten berührt tief. Der Raum mit seinen klaren Konturen ist verunklärt, metaphysische Fragen scheinen auf. Das Auge ist irritiert, der Betrachter verunsichert – oder beglückt, und das alles ob eines fast unsichtbaren Kunstgriffs. Ähnlich wie bei den Kästen ist offensichtlich, dass eine derartige künstlerische Setzung nicht ohne das Wissen um Minimal Art bzw. Konkrete Kunst hätte erfolgen können. Heike Weber erstellt ihre Arbeiten stets im Bewusstsein der zuvor geschriebenen Kunstgeschichte und knüpft in ihren umfangreichen Werkgruppen intuitiv an ihre eigenen zuvor entstandenen Arbeiten an. Mit Leidenschaftlichkeit nimmt sie es mit Minimalismus und Geometrie auf, spielt aber auch gerne mit barocker Fülle. Die Bodenzeichnung sonic, 2016, die im Zentrum der Ausstellung 23 steht und praktisch den Endpunkt der Zeitspanne von den frühen Kästen bis ins heute markiert, ist eine Arbeit im Raum und mit dem Raum.

Die repräsentative Eingangshalle der ehemaligen Fabrikantenvilla fungiert als Entrée in die Ausstellungsräume und ist durch Stuck, Säulen und Kronleuchter dominiert. Wie bei allen von Heike Webers in tagelanger Konzentration und Bewegung im Raum erschaffenen in situ-Arbeiten ist Zeit als Phänomen direkt ablesbar. Sie ist als Kontinuum frei aus der Hand gezogener konzentrischer Linien eines weißen Pigmentmarkers auf schwarzem Holzboden erlebbar. Bei der Betrachtung ihrer komplexen Trompe-l’oeil-Zeichnung, die Dreidimensionalität vortäuscht und schwindeln macht, vergisst man die Zeit jedoch, gerät ins Schwanken und Staunen, wird zum Teil des Kunstwerks und spürt förmlich die Energie und Hingabe der Künstlerin. Aus allen Räumen ist dieses Herzstück der Ausstellung, diese temporäre Verunsicherung der fest gefügten gründerzeitlichen Architektur, erlebbar, und jedes Mal stellt sich aufs Neue die Frage nach unseren Wahrnehmungsmustern und -gewohnheiten.

Anders als in ihrer Bodenzeichnung von 1998 im Grünen Salon des Erdgeschosses, den sie von den äußeren Umrissen des Raumes ausgehend ins Schwimmen versetzt hatte, geht die Künstlerin in sonic von einzelnen Punkten bzw. Tropfen aus, die das Zentrum sich konzentrisch ausbreitender Kreise und geschwungener Formen bilden. Diese raumgreifenden Gebilde überschneiden sich und bilden Interferenzmuster, wodurch sich die einzelnen Zentren zu einem Kontinuum, das den gesamten Raum stimmt und einnimmt, verbinden. Den Kontrast von weißer Zeichnung auf schwarzem Grund verstärkt sie durch die kalt gestimmte Beleuchtung, so dass sich die Installation noch einmal mehr vom klassischen Ambiente eines Wohnhauses bzw. Museums absetzt und die subtile Verunsicherung unterstützt.

Seit 2010 hat die Künstlerin die Technik des Scherenschnitts in ihr Werk aufgenommen: Im Kunstmuseum Villa Zanders, das aufgrund seiner Geschichte als Wohnsitz einer der führenden Papiermacherfamilien zu einem Kunstmuseum umgewidmet wurde, das sich besonders der Kunst aus Papier verschrieben hat und eine einzigartige Sammlung beherbergt, befinden sich diese doppellagigen Papierschnitte in reicher Gesellschaft.

Heike Weber schichtet ihre Scherenschnitte zu magischen Dschungeln von ungeahnter Tiefe, die sich durch die reiche Schattengebung nochmals steigert. Zuvor grundiert sie den schwarzen Karton malerisch mit Acrylfarben bevor die einschneidende Bearbeitung mit dem Cuttermesser Bäume, Äste, Zweige und Blätter freilegen. Diese verdichten sich in scrub, 2010 (–2016) zu einem Unterholz, einem dichten Gestrüpp, das jedoch viel Licht hindurchlässt. In diesen Scherenschnitten entsteht der Eindruck von Undurchdringlichkeit und Tiefe durch den Prozess der Schichtung und die Schaffung von Räumlichkeit. Das Licht malt mit, der Schatten ist – wie so oft bei Heike Weber – integraler Bestandteil dieser Werke. Trotz der wandfüllenden Dimensionen und Schwärze wirken die Scherenschnitte zart und luftig und lassen den Betrachter förmlich das Laub rascheln hören. Wie schön, dass zwei Scherenschnitte Dank der großzügigen Unterstützung von Sylvia und Hans-Wolfgang Zanders dauerhaft einen Platz in der Bergisch Gladbacher Sammlung Kunst aus Papier finden können! Im Treppenhaus werden beide Schnitte die Verbindung zum Außenraum mit seinen Bäumen und Sträuchern im umgebenden Park herstellen und gleichzeitig den Besucher auf den frischen Umgang mit dem zeitlosen Zauberstoff Papier einstimmen. Heike Webers Scherenschnitte machen aber - wie auch die Kordelzeichnung cubes oder die Haarnetzinstallation network deutlich - welch raumgreifende Wirkung und Präsenz ein Werk aus nur wenigen Quadratzentimetern Materie haben kann: Das real Existierende ist genauso aussagekräftig wie das nicht Vorhandene, das „Etwas“ so wichtig wie das „Nichts“.