Utopia kennt keine DIN Norm
Annelie Pohlen

Prolog

Zu den schönsten Bildern in Worten über Heike Webers in seiner Struktur klares und doch physisch wie mental irritierendes Werk zählt Matthias Schamps Suggestion vom Fliegenden Teppich.1 Zugegeben, es verdankt seine Beschwingtheit ihrem gemeinsamen Aufenthalt als Stipendiaten in Istanbul. Hier hat Heike Weber 2006/7 nicht nur massenhaft von jenen auf den Basaren angebotenen Miniteppichen für Touristen aufgekauft, sondern von diesen den Sprung in Zeichnungen aus Lack und Acryl auf Leinwand wie Papier und signifikanter noch in Bodenarbeiten aus Silikon gewagt. Gewiss, der Künstlerin geht es weder um die Funktion des Teppichs als nützliches oder dekoratives Accessoire im Raum noch um die Rehabilitierung der in allerhand spießigen Bodenläufern längst trivialisierten Ornamente aus 1001 Nacht. Und doch erinnert man sich beim Anblick ihrer "Kilims“ allzu gerne an all die schönen Varianten wundersamer Erzählungen aus dem Orient. Es sind auch diese spontanen Reflexe auf Transformationen von Werkstoffen und 'Bildern' in schwebende, stürzende, tanzende oder eben fliegende Kosmen, derentwegen die Imaginationen von Bewegung und Stillstand im Raum mehr sind als erste flüchtige Reflexe berauschter Subjekte. Einem nüchternen Blick auf die eher 'trockenen' Tatsachen kann es gleichwohl gelingen, jene autonomen künstlerischen Strategien in diesem mit minimalistischem Kalkül und leidenschaftlicher Radikalität vorangetriebenen Werk herauszufiltern, die die Wahrnehmung bis heute in ein komplexes Universum geistiger und sinnlicher Reflexionen verstricken.

Tatsachen im Rückspiegel und mögliche Wahrnehmungsrouten

1995 entsteht eine der ersten Raumarbeiten. Im Treppenhaus eines Hochbunkers aus dem 2. Weltkrieg verspannt Heike Weber eine Fülle 'blonder' Haarnetze von je 30 x 21 cm in serieller Anordnung über eine Gesamtfläche von 322 x 205 cm. Wäre da nicht der seiner Funktion als biederer Frisurenformer wegen belastete Stoff und der nicht minder belastete Ort, man wäre geneigt, die 'Eroberung' der Wand durch das Material, das nichts weiter zeigt als sich selbst, ausschließlich als einen radikalen Nachfahren des Minimalismus zu betrachten. Aber so, wie die Haarnetze in der Art von Drahtnetzen an Passstraßen die verwitterte Wand vor ihrem Zerfall, bzw. die Passanten vor herunterfallenden 'Brocken' schützen, mischen sich unweigerlich mit subtilem Humor gebrochene, existentielle Untertöne in die formal strenge Präsentation. Doris Krystofs Erinnerung an ihre erste Begegnung mit dem Werk gibt einen beschwingten Vorgeschmack auf vieles, was kommen wird. "Gesehen habe ich die Haarnetze an den weißen Wänden des Ateliers... Das heißt, ich habe sie gerade noch gesehen. Vielleicht habe ich auch nur den Schatten der hauchdünnen Verspannung gesehen. Es ist schwer zu sagen, was man wirklich sieht. Die Netze selbst sind eher Erscheinung. Erscheinung wie ein Flusen, der vor der Pupille tanzt.2 Drei Jahre später pulsiert ein handelsübliches Zwiebelnetz in einem Video ganz so, als wäre es tatsächlich zum Tanzen aufgefordert. Im unterkühlten 'white cube' der Galerie Schweins fordert 1996 eine rundum verspannte weiße Version die Wahrnehmung heraus, zwingt das Auge in ein unablässiges Hin und Her, um deren minimaler Präsenz vor der weißen Wand habhaft zu werden. Spätestens zu diesem Zeitpunkt ist klar, dass es nicht um Anbringung von Werken an der Wand oder im Raum geht, bei denen allenfalls mehr oder minder ungewohnte Materialien für Überraschung sorgen. Vorgezeichnet ist die Entgrenzung – weniger des Raumes selbst (den wird es ohnehin nicht rühren), sondern der Selbstwahrnehmung des Subjektes im und in seinem Verhältnis zum Raum. Die für Netzstrukturen relevante Linie als elementares Modul und die ihr essentielle Funktion an der Schnittstelle von Leere und Fülle werden die Entwicklung des Werks fortan – ob in der Fläche oder im Raum – in formal, materiell und inhaltlich zunehmend komplexeren Formationen vorantreiben. 1997 folgt 'Pelikan' in der Galerie Stefan Rasche: blaue Tinte und weißer Tintenkiller. Die mal tatsächlich, mal eher suggestiv schwingenden Parallelen fluten die mit Gipsputz geglätteten Wände, als habe sich der ganze Ozean in die Vertikale verirrt. Die Anspielung auf den dort beheimateten Vogel leuchtet ein, ehe der traditionsreiche Tintenhersteller seine Teilhabe reklamieren kann. Das für den Normalverbraucher widersinnige Verfahren, die edle Tinte erst über die gesamte Fläche auszubreiten, um anschließend nahezu die Hälfte derart beschwingt wieder zu 'killen' und den 'Rest' dem über die Zeit ausbleichenden Licht zu überlassen, dürfte allenfalls im Unterbewussten Anker werfen. Noch steht man immerhin dem Werk – wie gewohnt – gegenüber. 1998 dann die zu erwartende Eroberung des Raumes vom Boden her. Ein Foto zeigt "Quirl" am Strand von Ahrenshoop. Als habe das gleichnamige Küchengerät in der Mitte einer runden Schüssel festgesteckt, kreisen mit rotem Permanentmarker auf PVC gezogene Wellenlinien aus dem Zentrum gegen den Rand. Welche Imaginationen von Blüten, Wasserstrudeln oder kostbarer Rosetten sich auch immer in der subjektiven Wahrnehmung 'verquirlen', die der Gravitation geschuldeten maritimen Gezeiten werden sie ebenso überspülen wie den linearen Strudel im – objektiv betrachtet – statisch konturierten Objekt. Die Polarität zwischen dem künstlichen Kreislauf der Linien und der natürlichen Wellenfolge erzeugt im Gegenzug eben jene Dynamik, die über das objektivierbare Faktische hinausweist in ein freies Spiel von Linien in Raum und Zeit. Noch im gleichen Jahr schwappt die rote Welle mit Wucht durch einen Raum der Villa Zanders, einer Gründerzeitvilla, in der die Städtische Galerie von Bergisch-Gladbach residiert. Nicht einmal die Flügeltüren bieten dieser mit leiser Ironie als "Salonstück“ bezeichneten Flutwelle Widerstand. Ganz im Gegenteil. Deren spiegelnde 'Inlets' treiben die Wahrnehmung in wahre Orientierungsturbulenzen. Dies gilt erst recht für den 1998 vollzogenen, letztlich entscheidenden Schritt in die 'Totale': Der 'white cube' der Minimalisten mutiert zum "Whirlpool". Diesmal, wie schon 1996 in "Stage for the Opera", kommt blauer Permanentmarker ins Spiel. Allerdings, in diesem All-over der sich auftürmenden und wieder abflachenden 'Wellen', die nun mit Wucht vom Boden aus über die Wände fluten, geht die dem Werkzeug zukommende Funktion akzentuierter Markierung bedeutender oder gar zentraler Stellen ebenso glorreich unter wie das – 'gläubigen' Menschen unverzichtbare – Vertrauen in ein verbindliches Zentrum ihrer Existenz. 2000 kommt es in "room 104" zu der ersten die Grenzen zwischen traditionellen und 'neuen' Medien überschreitenden Inszenierung. Als habe man vergessen ihn abzuschalten und mitzunehmen, steht auf dem Boden eines vollends leer geräumten Hotelzimmers im niederländischen Nijmegen – ein Monitor. Eine aus sich selbst leuchtende Qualle dümpelt im Bild, reglos, als müsse sie sich tot stellen, um einem sich über Boden und Wände erstreckenden Raster schwarzer Linien zu entkommen. Welch inspirierender Vorgriff auf die vielen noch folgenden Videoloops zeitbasierter 'Ereignisse' – unter diesen die in "White out", 2000, so präzise wie beiläufig aus der Sicht des Körpers aufgezeichnete Skiabfahrt, 2004 der kreisende und stürzende "Eisprinz“ und 2005 der dahin schmelzende Schneemann in "Black out". In der vorbegrifflichen Wahrnehmung zünden die sich bisweilen dramatisch zuspitzenden Bewegungen Nachbilder großer Erzählungen vom elementaren Duell zwischen Dynamik und Stillstand, Auftauchen und Verschwinden in Zeit und Raum mit ebensolcher Intensität wie die Netzraster, Wellenbewegungen und Kreisbahnen im architektonischen Raum. Der unbändig quellenden Fülle folgt ein vibrierendes Experiment mit dem Sein des und im leeren Dazwischen. Am Anfang stehen der Scherenschnitt aus PVC "Aquaplaning", 2000, in der Galerie Stefan Rasche und die zeitgleich entstandene Papierarbeit "Wasser". Es folgen u.a. 2011 die "scrub" betitelten Scherenschnitte bei Rasche Ripken in Berlin und die durch malerische Eingriffe in die Binnenstrukturen zu magischen Naturräumen 'geschichteten' Papierschnitte in den Ausstellungen "Cut" und "Cosmos", beide 2013. Die Reaktivierung der im 19. Jahrhundert unter Künstlern wie Kunsthandwerkern beliebten Technik für diese wie alle nachfolgenden Raumarbeiten und Zeichnungen impliziert indes mehr als eine technische Weiterung im Herstellungsprozess und auch mehr als die Ausweitung der zukünftig relevanten Rohstoffe. Denn, was die Künstlerin ebenfalls ab 2000 der Wäscheleine und dem Teppichboden, ab 2007 dem Silikon und ab 2013 der silbrig glänzenden Trittschalldämmung und dem als Verpackungshilfe vertrauten Klebeband zumutet, um nur die markantesten zu nennen, treibt die je subjektive sinnliche Wahrnehmung durch die schönsten aller medialen und architektonischen Turbulenzen in komplexe Reflexionen über Fülle und Leere, Anwesenheit und Abwesenheit im physischen wie im mentalen Raum. Auf Nägeln aufgehängte Bergsilhouetten aus roten Wäscheleinen – "white out", 2000, und "Bryce 2", 2001, ab 2003 fliegende oder stürzende Figuren aus Fenstermalfarbe auf Nadeln, heißen sie nun "Hermengild", "Amor & Psyche" oder "Ikarus“ – spielen ebenso beschwingt wie augenzwinkernd mit der zu allen Zeiten in Schwindel erregenden 'Bildern' kondensierten Erfahrung von Bodenlosigkeit. Vor allem aber sind diese Bilder ob ihrer sich wechselseitig bedingenden kunstimmanenten Aspekte von Raum und Material, Stoff, Medium und Form ein wunderbar klares Statement zu einer der fundamentalen Eigenschaften von Raum: sein Dasein als Zustand zwischen Yves Kleins 'Spiritualität' der Leere3 und der radikalen Objektivierung der 'primary structures' durch die Minimalisten. "Mein Traum vom Fliegen" ist 2003 eine Ausstellung in der Galerie Schweins betitelt. Auf dem Boden die erste Version einer aus Teppichboden ausgeschnittenen Arbeit mit dem hintersinnigen Titel "Läufer". Im vollends leeren Nachbarraum schwebt die Umrisszeichnung des westgotischen Märtyrers "Hermengild" an der Wand. Könnten sich Stoffe wehren, die hochwertige Auslegeware müsste Klage erheben wegen schamlosen Missbrauchs ihrer ureigensten Bestimmung, alles unter ihr Befindliche zum Verschwinden zu bringen. Und das nur, um einer minimalistischen Rasterstruktur zu Diensten zu sein, für die ausgerechnet die vergrößerte Kopie eines banalen Buschbohnennetzes die Vorlage liefert. Ist es nicht von besonderem Reiz festzustellen, dass zukünftig Stoffe, an deren Verschwinden jedem Fachmann dringend gelegen ist, ihre ungeahnte Schönheit mit allem – nicht zuletzt deren Produzenten – irritierenden Nachdruck zur Schau stellen dürfen? Da ist zunächst das vornehmlich als Dichtungsmasse geläufige Silikon, das ab 2007 von der Künstlerin in Formen 'gegossen' wird, deren offensiv fragile Erscheinung die Sinne verführt und in der Wahrnehmung Nachbilder zündet, die der Ratio trotzen wie fliegende Teppiche in grenzenlosen Räumen. In der linearen Überdehnung des seiner alltäglichen Verfügbarkeit wegen banalsten Rohstoffes zum 'Faden' für Gegenstände, die als Teppich und Wandbehang ob ihrer raffinierten Webtechnik zu den großen Kulturgütern des Orients zählen, zieht die Künstlerin nun alle Register physischer und geistiger Transformation des architektonischen Raumes in einen zwischen minimalistischer Reduktion und barocker Opulenz schlingernden Wahrnehmungsraum.4 Ob 2012 in der vom barocken Geist durchtränkten Burgkapelle im Kärntener MMK oder 2013 in der eher besinnlichen Basilika S. Francesco in Arezzo unter den Augen des verehrten Piero della Francesca, ob 2012 im spröden Raum der Kunsthalle Darmstadt auf raumgreifendem, blauem Podest oder 2014 in Ludwigshafen als flächendeckende Reihung aller bis dato entstandenen weißen Versionen: Die so unglaublich stillen "Kilims“ füllen und beleben diese Räume wie große Nachbilder unstillbarer Träume vom Fliegen. Wem Webers künstlerisches Laboratorium auch nur annähernd vertraut ist, wird kaum verwundert sein, dass in der Riege der gegebenenfalls zeitgleich, auch konfrontativ ausgeloteten Materialien – unter diesen bislang auch Glaskugeln, Lippenstifte, Selbstklebeetiketten und Lichtschläuche – weitere Stoffe aus den Lagern der Hobbymärkte und sonstiger Konsumbeglücker ihren irritierend 'angemessenen' Platz finden. Zum nicht minder vertrauten, gleichwohl frappierenden Erfahrungsschatz zählt, dass sich ihre alle Gewissheiten von physischer und psychischer Stabilität unterminierenden Raumbesetzungen erst recht dann zu spannungsgeladenen Drahtseilakten steigern, wenn sich die Künstlerin mit extrem widerspenstigen Raumsituationen konfrontiert sieht. So 2013 für "Cut" in der Nord LB Gallery in Hannover. Hier gilt es, einem Raum, der mehr mit der vordergründigen Transparenz von Foyers und Treppenhäusern in Wirtschaftsimperien denn mit den in sich ruhenden Zonen zur konzentrierten Wahrnehmung von Kunst zu tun hat, so etwas wie ein Gesicht oder einen Charakter zu verleihen. Und das neuerlich mit den allergewöhnlichsten Alltagsstoffen: Aus weißem PVC ausgeschnittene Waben ornamentieren den längst langweiligen Allerweltsparkettboden, mit denen sich nicht nur Banken allerorts einen edlen Anstrich verleihen. Als gelte es, dem die Wahrnehmung überwältigenden Boden einen Spiegel vorzuhalten, schwappen die Waben in die Vertikale auf einen Kubus, an dem eine eher schmächtige Treppe auf eine der handelsüblichen Galerie-Emporen und von dort in den geschlossenen Verwaltungssektor strebt. Dass in der Horizontale wie in der Vertikale einzig Leerstellen zum Ornament mutieren, dringt wohl so zögerlich ins Bewusstsein wie die Tatsache, dass das hier erstmalig eingesetzte transparente, eigens mit schwarzen Punkten bedruckte Klebeband auf dem massiven Kubus den Takt vorgibt. Weswegen das Echo auf das Bodenmuster an diesem Ort – mehr Durchgangspassage denn Raum zum Verweilen – jenen Sog erzeugt, der wie über- und untereinander kurvende Autobahnen an verdichteten Verkehrsknotenpunkten alle Gewissheiten über den Raum auf die Probe stellt, wenn nicht gar triumphal überwältigt. Gemessen an dieser Inszenierung erscheint der Auftritt in der Städtischen Galerie Schloss Borbeck in Essen wie eine in sich ruhende, um nicht zu sagen unprätentiöse Insel poetischen Spannungsausgleichs. Der bestechenden Kargheit wegen glaubt man diesen nachgerade bescheiden auftretenden "Cosmos" schnell zu durchschauen. Doch dann: Als habe jemand den blanken Estrich mit quecksilbrigen Adern überzogen, bremst ein nach undurchschaubaren Regeln verschlungenes, silbern glänzendes Schlaufensystem den allzu eiligen Besucher aus. Lockten da nicht aus der Ferne die vegetativ vermusterten Scherenschnitte, man würde sich möglicherweise scheuen, diesen im Licht herausfordernd flirrenden Boden zu betreten. Kaum sind die Hemmschwellen gefallen, leiten die Schritt für Schritt verunsicherten Füße ihre ambivalente sinnliche Erfahrung des permanenten Wechsels zwischen Härte und Nachgiebigkeit an die bis dato eher wenig tangierte Ratio. Wer sich in Rohstoffen auskennt, weiß, dass die hier zum Einsatz gelangte Trittschalldämmung so wenig je als 'brillantes' Ornament für einst herrschaftliche Domizile in Schlossparks erfunden wurde wie das glibberige Silikon für Webers delikate "Kilims“. Seine Daseinsberechtigung verdankt diese Meterware dem flächendeckenden, vor allem unsichtbaren Einsatz zwecks Spannungsausgleich unter Parkett, Fliesen oder sonstigen zu Rissen neigenden Bodenbelägen und beileibe nicht der Erzeugung solch zwiespältiger Zustände zwischen edler Beschwingtheit und provokanter Härte für Augen, Füße und schließlich das zwischen Emotion, Faszination und praktischem Wissen schlingernde Wahrnehmungssystem. Die Künstlerin hat die zum Verschwinden verdonnerte Auslegeware an die Oberfläche geholt. Und ganz so wie die ebenso widersinnig traktierten edlen Teppichböden entfaltet auch dieses – nicht ganz so edle – Material eine Schönheit, die verwirrt.

Was aber ist damit gesagt?

Könnte es nicht sein, dass die Wechselwirkung zwischen dem objektiv messbaren und dem subjektiv erfahrenen Raum entschiedener von dem je gezielten Einsatz des Materials und der nicht minder gezielt angewandten Verfahren abhängt, als es die bloße Nennung nahe legt? In ihren Räumen lassen sich unschwer eingefleischte Kulturtechniken wie alltagstaugliche Fertigkeiten auflisten: Linien ziehen, geometrische Muster auf Flächen übertragen, Netze und Leinen spannen, spritzen, ausschneiden und kleben. Kurzum Prozesse, in deren Folge die einmal aus ihrem öden Alltagsauftritt befreiten Materialien ein hintersinniges Spiel mit der ihnen von Menschen diktierten Rolle als flächendeckende Bodenauslegeware, einfallsloses Fensterdekor, öde Aufhängeleine, klebrige Verpackungsbänder, schnöde Dämmstoffe treiben. Weswegen sich die Ratio auf einem ebenso geist- wie sinnenreichen Wahrnehmungskarussell wiederfindet, dessen wundersame bis absurde Kapriolen den faktischen Stillstand in geistige Bewegung transformieren. "Das Raumerlebnis wird von einem ganz anderen Teil des Gehirns verarbeitet als das Bild, die Zeit, die Geschichte", so Adrian Kreye zur "Pionierleistung von Wim Wenders 3D-Film über Pina Bausch".5 Kreye verweist auf eine These von François Garnier, Pionier der Computergrafik und Lehrer an der renommierten Ecole des Arts Graphiques: Der Grundfehler nahezu aller Regisseure sei es, 3D im Film nicht als neues Medium, sondern als "Effekt" zu nutzen. "Für die Raumerfahrung seien aber nicht die kognitiven Fähigkeiten, sondern die Basalganglien zuständig, weswegen das Wissen um die Effekte allenfalls zu Reliefs, nicht aber zur Eroberung des Raumes tauge.6 Was Wenders' Film als intuitives Raumerlebnis gelingt, lässt sich unschwer auf Webers Raumarbeiten übertragen. "Schnell denkt man, das ist Einbildung, Irritation der Netzhaut, alles nur in deinem Kopf. Ist es aber in diesem Fall nicht... Sie verführt, doch entlässt auch wieder... Angesichts des Flirrens der feinen Netze fühlt man den Sehsinn körperlich werden", so 1995 Doris Krystofs sinnliche und geistige Wahrnehmung kondensierende Reaktion auf die "Haarnetzverspannung" in Heike Webers Atelier.7 Auch wenn die nachfolgenden Werke ihre materielle Präsenz im Raum offensiver behaupten, für die Zukunft gilt: Weber täuscht nichts vor. Sie überzeugt, indem sie ihre Räume – auch die schwierigsten – in ihrer meist vorhersehbaren, vielfach auch überraschenden Eigengesetzlichkeit ebenso ernst nimmt wie die je spezifischen Handlungsprozesse im Raum. Ihr Raum ist kein Abstraktum, sondern ein physisches 'Subjekt' mit je anderen Charakteristika, solchen, die überwältigen und solchen, die stören. Und so ist es wohl mehr als eine Feststellung am Rande, dass die künstlerische Operation im Raum immer eine solche mit dem Raum ist, dessen Eigenarten inklusive Fehler den Prozess künstlerischer Entscheidungen maßgeblich beeinflussen. Die daraus folgenden, die sinnliche Wahrnehmung steigernden Abweichungen vom prinzipiell eingeschlagenen und auch durchgehaltenen Prozedere haben rein gar nichts mit Koketterie oder Effekthascherei zu tun. Hier zählt die zwar berechenbare und doch frappierende Dualität von Ursache und Wirkung des Schmetterlingseffektes aus der Chaostheorie. Deren Grundlagen hat Edward N. Lorenz 1972 im Titel seines Vortrags über wissenschaftliche Möglichkeiten exakter Wettervorhersagen in der wunderbar bildträchtigen Frage verdichtet: "Does the Flap of a Butterfly's Wings in Brazil set off a Tornado in Texas?8 But what is it that makes Heike Weber‘s spaces so different, so appealing? Was führt über das andernorts schon Erprobte und von der Künstlerin an keiner Stelle schlicht nur Plagiierte hinaus, wenn nicht die unaufdringlichen und doch maßgeblichen Spannungen zwischen Aneignung und Abweichung, zwischen Eigenart und Umdeutung, zwischen Balance und Turbulenz im physischen und im mentalen Raum von Kunst und Alltag. Welchem von Höhenangst geplagten Individuum wäre nicht der seltsam widersinnige Zustand zwischen Schwindelgefühl und Bodenlosigkeit bekannt, den schon Abbildungen von imposanten Bergketten auszulösen vermögen? Nicht weniger geläufig die in der dekorsüchtigen Gesellschaft allerorts ausgereizte Verwendung von Streifenmustern in der Nachfolge von Op art, erst recht ihrer kinetischen Nachfahren in Farb- und Lichtgestaltung. Noch jede Disko flutet den Raum mittels einer sensationell einfach konstruierten Kugel mit geometrischen Mustern, um das physische Sensorium ihrer Besucher in Erregungszustände zu versetzen. Um wie viel interessanter ist selbst ein kurzer Blick auf Mondrians "Broadway Boogie Woogie"-Bilder aus den frühen 40er Jahren auf der einen und auf Yves Kleins "vide" von 1958 auf der anderen Seite, um die Spannung von Fülle und Leere zu ermessen, die diesem Werk in zunehmendem Maße zu einer durchschaubaren und doch das Messbare entgrenzenden Intensität verhilft. Natürlich wäre der Versuch, dem oben vorgeführten Faktencheck nun im Gegenzug eine vom Autor gedichtete Gebrauchsanweisung zur intuitiven oder sinnlichen Wahrnehmung des Zusammenspiels von Material, Bewegung und Raum folgen zu lassen, zum Scheitern verurteilt. Das mag der Hirnforschung in ferner Zukunft gelingen. Noch ist es nicht so weit. Noch sind es die dem Besucher je eigenen Reaktionen auf im Alltag allenfalls nützliche, banale, wenn nicht gar zum Verschwinden verurteilte Stoffe, die in Heike Webers Transformationen in jenen unkalkulierbaren Zustand versetzen, in dem Irritation und Rausch nahtlos in Empfindungen stillen Glücks umzuschlagen vermögen. Weniger banal als es im geläufigen Kunstdiskurs erscheinen mag, sind Heike Webers Erfahrungen mit Sponsoren ihrer Werkstoffe. Als die Künstlerin 2003 den ersten Auftritt eines durch Leerstellen 'missbrauchten' Teppichbodens, jenen oben genannten "Läufer", in Gemeinschaft mit "Hermengild" als "Traum vom Fliegen" betitelte, da herrschte noch friedliche Ruhe im Raum, gemessen an den heftigen Turbulenzen im "Multiversum", jenem 2010/11 im Marta Herford in 12 Meter Höhe 'Fliegenden Teppich', von dem nur noch sich überschneidende Ringe übrig waren. Was die gemeinhin ökonomisch denkenden Produzenten des zum Bedecken großer Bodenflächen erfundenen 'Rohstoffs' nach dem ersten Entsetzen über den 'Missbrauch' ihrer stolzen Ware plötzlich begeisterte, ist vermutlich die aus ihrer Sicht 'unkalkulierbare' Vitalität der Wechselwirkung zwischen dem chemisch wie funktional eindeutig definierten Stoff und dem architektonisch klar definierten Raum. Ob die Produzenten die zu "mäandernden Rinnsalen"9 transformierte Trittschalldämmung in Essen mit gleicher Intensität genießen konnten, ist nicht bekannt. Sicher ist, dass die Freisetzung der Stoffe aus dem normativen Alltagsgebrauch diesen eine 'Strahlkraft' verleiht, derentwegen sich das Wissen um das rational Messbare um die je subjektive sinnliche und emotionale Wahrnehmung von Bewegung im Raum erweitert. Mit einem kurzen Verweis auf Titel wie "Traum", "Utopia", "Amor & Psyche", "Vertigo", "Cosmos", "Utopia" und "Multiversum", Namen mythischer Ikonen und auratisch aufgeladener Orte, die gelegentlich mehrfach, respektive für Werke unterschiedlicher Stoffe auffällig in Spannung zu Webers kalkulierten Handlungsprozessen treten, sei ihr komplexes Spiel mit "großen Gefühlen"10 an zwei in diesem Kontext besonders aufschlussreichen Orten herausgestellt. 2004 ist "Glück" Titel der Ausstellung in der Galerie Rasche in Münster. Ein gewöhnlicher Lichtschlauch 'schreibt' ebendieses große Gefühl als unmissverständlichen Begriff an die Wand, während das in Folge rigoroser Cut-outs auf ein unfassbares Wirrwarr in sich verhedderter Linien reduzierte Glück des so betitelten Teppichs ungebremst den Boden erobert. Noch im gleichen Jahr hat Heike Weber eine weitere Ausstellung "Glück" betitelt. Im Treppenhaus des Kunstfonds gibt das oben vorgestellte gleichnamige Opus den Takt vor, was mich damals – der kurzfristigen Deadline und der vorgegebenen Textlänge wegen – zu einem Bündel 'fragwürdiger' Spekulationen verführte: "Sind Wäscheleinen glücklich, der alltäglichen Folter von Wäscheklammern zu entkommen, um über Hunderte von Nägeln laufend die Konturen einer im Abendlicht versinkenden Bergkette zu zeichnen? Wie wäre es, sich glückliche Teppichböden vorzustellen, die – Boden deckende Behaglichkeit verweigernd – ihre Nutzer in einen Zustand der Verwirrung stürzen? Und was ist, wenn ein Schlauchlicht nicht nur Glück verstrahlt, sondern sich selbst als Glück verbalisiert? Wer erinnert sich nicht an die kindliche Lust, durch Einschnitte ins Papier Musterdeckchen als Glücks-Transmitter für Erwachsene zu produzieren? Sicher, die verrutschten selten in die turbulenten Rhythmen, derentwegen man sich an Schwindel erregende Schleifen von Schlittschuhläufern auf spiegelnden Eisflächen erinnert oder an die kindliche Freude, ordentliche Kreise im Wasser durch weitere Steinwürfe zu stören." 2004 beendete ich die eher spontanen denn grundsätzlichen Reflexionen mit dem wissentlich untauglichen Stoßseufzer: "Oh, Pause der DIN Norm, verweile doch, Du bist so schön."11 2010 hat es allein dieses deutsche Normenwerk auf 32.454 Einzelpositionen gebracht. Die international je anders in Buchstaben und Zahlen abstrahierten Erkenntnisse aus Wissenschaft, Technik und Erfahrung verdichten sich inzwischen zu einem Netzwerk, dessen 'Dekor' dem Laien so wundersam verführerisch begegnet wie die unzähligen Ornamente zwischen Figuration und Abstraktion, die das Alltagsuniversum weltweit vermustern.

Epilog

Als Yves Klein 1958 seinen "Sprung ins Leere" wagte und mittels des bis heute faszinierenden Fotos zu dokumentieren trachtete, erntete er selbst unter Kollegen vor allem Spott. Er ließ sich seine "Utopia" nicht nehmen. Auch den Minimalisten ist es nicht gelungen, ihr Werk vor den die kognitiven Hirnleistungen erweiternden, bisweilen auch ausschaltenden Impulsen der Basalganglien zu schützen. Sie sind es, die die Beziehungen zwischen Autor, respektive Betrachter und Werk im physischen Raum mit jenen Energien aufladen, die schon Yves Klein gegen alle rational fundierten Nachweise seines Scheiterns an der materiellen Wirklichkeit immunisiert haben. Auch Heike Webers Teppiche fliegen nicht. Nicht die Cut-outs, die es vom Boden an die Wand geschafft haben, und schon gar nicht die aus weißem Silikon, deren kostbare 'Leichtigkeit' sich einzig dem Glanz der abstrakten Linienführung aus der Kartuschenpresse verdankt. Die DIN Norm ist ein nützliches 'Kind' der Aufklärung, ein meist freiwilliges, gelegentlich staatlich verordnetes Regelwerk, das vornehmlich effektivitätsorientierten Interessen dient und somit aus dem Blickwinkel der Wirtschaft größtmögliche Übereinstimmung zwischen Produzenten und Konsumenten voraussetzt. Doch im "Multiversum" taugt die geradlinige Fortschrittslogik nicht. Und in "Utopia", 2007, bedarf es keiner DIN Norm, sondern nur einer einfachen Glühbirne im schwarzen Raumkubus, um die über Boden, Wände und Decken quellenden Linien des Permanentmarkers aus dem Stillstand und der Düsternis von Platons Höhle in ein Universum tanzender Wellen und Berge zu katapultieren. Eine Antwort auf die Frage, ob nach der Verstärkung durch die märchenhaften "Kilims" die Schlauchlichter, Wäscheleinen, Teppichböden und all die anderen in ebenso nützlichen wie banalen Alltagsnormen gefangenen 'Rohstoffe' wie Trittschalldämmungen, Klebebänder und in Heike Webers "Multiversum" aller Voraussicht nach noch folgenden Spezies glücklicher sind oder sein werden, wird man mit dem gebührenden Vergnügen ins Reich der kindlichen Imagination verschieben. Die Rohstoffe werden dem Regelwerk der Alltagsnormen nicht entkommen. Und wenn sie ihre Dienste erfüllt haben, werden sie schlimmstenfalls selbst in den Gefilden der Kunst so enden wie die fliegenden und stürzenden mythischen Figuren im physischen Raum, das mit Punkten dekorierte transparente Tape in "Cut" und die Schneemänner im Video "Black out": als verklebtes Häufchen Fensterfarbe, kaum zu bändigende Masse verdreckter Klebebänder – oder als Wasserpfütze. So wie Heike Weber die Schneemänner in "Cosmos", 2013, in einem auf Anhieb nicht sichtbaren Schutzraum erneut vor sich hinschmelzen lässt, entführt der ihrem Werk eigene humorige Hintersinn die Begegnung mit dem zu silbrig glänzenden Rinnsalen geronnenen Dämmstoff in wundersam glückliche Gefilde poetischer Vieldeutigkeit.12 Langfristig wird sich "Glück" allenfalls dann einstellen, wenn die Wahrnehmung selbst den Sprung in jene Freiräume des Bewusstseins riskiert, in denen die selbst in DIN Normen gefangene Ratio – für kurze Momente – die Kontrolle über die unzähligen Imaginationen von 'fliegenden Teppichen' im grenzenlosen Universum verliert. "Dieweil meine Augen Achterbahn fahren, wird mein Gedankenflug befeuert", so beschreibt Matthias Schamp seinen Zustand bei der ersten Begegnung mit einem Silikonteppich seiner Künstlerkollegin.13 2012 'hinterlässt' Heike Weber einen von der Leichtigkeit der über Nägel geführten Wäscheleinen und der Spannung verrutschter Pole beflügelten "Globus" im eher engen Treppenaufgang des Flughafentowers von Berlin/Brandenburg. Wenig später scheitert die Eröffnung des spektakulären Großflughafens an der nicht erfüllten DIN Norm. Wie wäre es wohl, wenn es der Ratio im Moment, da sie mit ihren eigenen Grenzen konfrontiert wird, einmal gelänge, im "Cosmos" dieses sich ausdehnenden und wieder kondensierenden "Multiversums" Achterbahn zu fahren? Man könnte auch dies als einen Moment "großer Gefühle" imaginieren. Glück – so meine weiterhin ungesicherte Wahrnehmung – bereitet dieser ungeschützte Gedankenflug in das turbulente Universum der Schönheit der / ihrer Kunst. Und das wird – glücklicherweise – nicht nur in der Kunst immer "Utopia" genannt werden.

1 Matthias Schamp, Der Flug auf dem Teppich, in: kilims a la turca, Lehmbruck Museum, 2009
2 Doris Krystof, gerade noch, in: Maikäfer flieg, Köln 1995, S. 89
3 Auf Kleins Sprung ins Leere hat Heike Weber ganz offensichtlich mit der Wandarbeit "Yves", 2008, in der Galerie Martina Detterer, Frankfurt angespielt.
4 siehe dazu Martin Engler, Barocke Welten und weiße Zellen, in: Heike Weber, Barocco, Museum Morsbroich, 2004
5 Süddeutsche Zeitung, Feuilleton, 28.2.2012, S. 11
6 Den unterhalb der Großhirnrinde gelegenen Basalganglien verdankt der Mensch eine die kognitiven Hirnleistungen erweiternde, bisweilen auch ausschaltende Fähigkeit zu Spontaneität, Affekt, Antizipation u.a.
7 Doris Krystof, a.a.O.
8 Edward N. Lorenz, Predictability: Does the Flap of a Butterfly's Wings in Brazil set off a Tornado in Texas?,1972
9 Sabine Elsa Müller, Unter dem Pflaster liegt der Strand, immer noch, in: Cosmos, Essen, 2013
10 In einem ebenso betitelten Werk illuminiert 2005 ein Lichtschlauch ebendiese "großen Gefühle" als Kondensat aller existentiellen Mühen, dem banal Alltäglichen zu entkommen.
11 Heike Weber, Glück, Stiftung Kunstfonds, Bonn 2004
12 zur Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten siehe Sabine Elsa Müller, a.a.O.
13 Matthias Schamp, a.a.O.