„Ich arbeite wie ein Seismograf und zeichne ein Echo des Raumes“
Ein Interview mit Stefan Rasche

S.R. Mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen, ist die Basis körperlichen Raumerlebens, die Voraussetzung verlässlicher Orientierung. Denn sobald der Mensch seine Bodenhaftung verliert, etwa als Flugreisender, wird der Bezugsrahmen brüchig, verschwimmen Perspektive, Dimension und Raumkonstanz. Mit Deinen Bodenarbeiten bewirkst Du dagegen, dass physische und visuelle Wahrnehmung scheinbar getrennte Wege gehen: Zwar darf der Besucher Deiner Ausstellungen auf den Linienzeichnungen umherlaufen, spürt also festen Boden unter den Füßen, und doch entsteht ein Schwebezustand, zumindest aber der Eindruck, als bewege er sich auf einem seinerseits bewegten Grund.

H.W. „Mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen“, bedeutet für mich ebenso, ein funktionierendes Glied unserer Gesellschaft zu sein. Den Gedanken, „den Boden unter den Füßen zu verlieren“, finde ich sowohl physisch als auch psychologisch interessant.

Ein Verlust des Bezugs zum Boden hat immer die Suche nach einer Neuorientierung zur Folge. Es können sich also neue Perspektiven für den Betrachter eröffnen. Ein In-Frage-Stellen des „Hier und Jetzt“.

S.R. Die „neuen Perspektiven“, von denen Du sprichst, führen mich in einen assoziativen Raum, der stark von außer-künstlerischen Bildern durchdrungen ist. Ich bewege mich auf Deinen Böden, bestimme Richtung und Tempo - und habe zugleich das Gefühl, (allein) wie von einem hohen Turm auf eine unbekannte Landschaft herabzuschauen. Anders gesagt fühle ich mich angesichts Deiner Bodenzeichnungen aus den gewohnten Raum- und Alltagsbezügen im doppelten Wortsinn freigestellt. Genau in diesem Sinne haben Deine Arbeiten eine ausgeprägt illusionistische Qualität, die sich nicht vordergründig als visuelle Verführung, sondern zuallererst als physische Erfahrung manifestiert. Wie es wohl wäre, über Wasser zu gehen?

H.W. Ich muß an eine Geschichte denken, die ich auf meiner Abiturfahrt nach Israel erlebt habe. Wir badeten morgens im See Genezareth, und unser Lehrer fing prompt an zu lachen und meinte, er könne jetzt verstehen, warum Jesus über das Wasser gelaufen sei. Es lagen tatsächlich dicke Steine unter der Wasseroberfläche, und so taten wir es ebenso...

Ähnliche Illusionen erwecken meine Bodenzeichnungen. Sicher, zuerst erfährt man sie körperlich, aber da die formale Sprache meines Werkes so simpel und für jedermann nachzuvollziehen ist, kann der Betrachter sich durch rationale Kontrolle immer wieder stabilisieren. Körper und Ratio werden zu gleichen Teilen gefordert, in dem mal das eine, mal das andere überwiegt. Das ist der Reiz meiner Arbeit. Nicht der schöne trompe-l'oeil-Effekt (obwohl mir Sinnlichkeit und Schönheit wichtig sind), sondern was der Betrachter mit seiner Bewegung im Raum, deren Tempo und Wendungen er selbst bestimmt, wahrnimmt und welche Assioziationsketten er bildet.

So gesehen ist Dein Bild von dem hohen Turm, von dem man in eine unbekannte Landschaft herabschaut, sehr schön, obwohl rational die Zeichnung gar nicht unbekannt ist.

Ich arbeite wie ein Seismograf und zeichne ein Echo des Raumes.

S.R. Das Bild vom Seismografen finde ich sehr plausibel - den statischen Raum in Schwingungen zu versetzen, dem ebenen Boden Wellenberge und Wellentäler einzuschreiben, Aufwerfungen und Erschütterungen zu provozieren: Deine zeichnerischen Transformationen lösen Grenzerfahrungen aus, rühren aufgrund ihrer körperlichen Unmittelbarkeit nicht zuletzt an Ängste, denen sich der Betrachter / Begeher Deiner Bodenlineaturen kaum widersetzen kann, auch wenn er deren Wirkungsweise rational durchdringt. Fiktion und Fiktionsbewusstsein liegen folglich eng beieinander. Wie von Dir schon angedeutet, führt mich dieses permanente Kippmoment zu der Erkenntnis, dass unsere hausgemachten, mühsam aufrecht erhaltenen Ordnungen „am seiden Faden“ hängen, um sich jederzeit gegen uns zu verkehren. So tragen die Raum- und Zeitsprünge, die Du zeichnerisch initiierst, zu einer Destabilisierung des Feldes bei, verursachen Schwindel und Flimmern, ohne jedoch in Chaos zu münden. Im Gegenteil lässt sich ja behaupten, dass erst die Konfrontation mit Grenzen und Hindernissen dazu führt, eigene Bewegungs- und Handlungszonen bewusst in den Blick zu nehmen und gegebenenfalls zu verändern. Raum- und Selbstvertrauen müssen neu erworben werden.

H.W. Stimmt, ich erinnere mich sehr genau an verunsicherte Gesichter von Ausstellungsbesuchern, die meinen Boden betraten. Schon allein ein Zeichnung zu begehen, ist fremd, weil man sie dadurch auch gleich der Zerstörung aussetzt. Zeit und Vergänglichkeit spielen dabei eine große Rolle.

Meine jüngste Arbeit im Magazin 4 in Bregenz habe ich „shift“ genannt. Shift bedeutet Änderung, Wandel, Verschiebung. Ich möchte den Blickwinkel verschieben,

eine neue Raum- und Selbstwahrnehmung kreieren, was aber nicht ausschließlich Ängste wecken muss, wie wir vorhin behauptet haben, sondern sich auch sehr positiv auswirken kann.

So, als ob man umzieht oder die Wohnung umgestaltet, um mit alten Gewohnheiten zu brechen.

Meine Boden- oder Raumzeichnungen beziehen sich formal ausschließlich auf die vorhandene Architektur. Zunächst lasse ich den Raum zur „white box“ werden, indem ich den Fußboden mit weißem PVC auslege, so dass Boden; Decke und Wände gleichwertig als weiße Flächen erscheinen. Dann zeichne ich mit Permanentmarkern entweder den Grundriss des Raumes als sich zu seinem Mittelpunkt verjüngend in konzentrischen und sich immer auf die vorhergehenden Linien beziehend nach, oder ich nehme vorhandene Architekturelemente wie Säulen oder Türöffnungen, Heizungen, Lampen oder auch Möbel als Ausgangspunkt meiner Zeichnung. Die Linien gehen nun von diesen Punkten aus wie die Wellen eines Steines, den man ins Wasser wirft und schwappen wie Strudel ineinander. Der Raum wird dadurch, dass ich diese architektonischen Punkte markiere, viel intensiver, aufregender wahrgenommen. Zwar kann man meine Lineaturen logisch nachvollziehen, doch durch das bewegte Bild und durch die Bewegung des Betrachters im Bild findet das Auge keinen Halt.

Interessant finde ich natürlich, und das möchte ich auch provozieren, dass sich über die andere Raumerfahrung auch die Sicht auf die „eigenen Dinge“ verschiebt.

S.R. Wenn Du Dich einerseits auf vorgegebene Eigenschaften des Raumes und seiner Ausstattung beziehst, andererseits die Architektur aber zunächst in eine „white box“ verwandelst, um sie dann zeichnerisch zu markieren, so beschreibst Du damit einen Prozess, der sich zwischen Reaktion und Transformation bewegt. Das geschieht an Orten, bei denen es sich zumeist um institutionelle Ausstellungsräume handelt, die sich kaum je als solche, sondern erst durch ihre Funktion, den jeweils neuen künstlerischen Eingriff definieren. Hier stellt sich mir die Frage, ob Deine zeichnerischen Verwandlungen, die meines Erachtens weit über die inzwischen inflationäre Praxis formaler Ortsbezogenheit hinausweisen, nicht auch prädestiniert für kunstferne Räume wären. Ich erinnere mich beispielsweise an das wunderbare Foto einer quallenförmigen Bodenarbeit, die Du am Strand der Ostsee aufgenommen hast, könnte mir Deine zeichnerischen Interventionen aber ebenso im öffentlichen Stadtraum vorstellen. Oder siehst Du Deine Kunst mehr auf „Schutzräume“ angewiesen, um ihre Aura nicht zu gefährden?

H.W. Ganz im Gegenteil. Ich fände es äußerst interessant, eine Arbeit im öffentlichen Raum zu installieren. Um eine Arbeit zu etablieren, ist für mich der „Schutzraum Galerie“ naheliegend, da aber der Betrachter das Werk erst zur Vollendung bringt, wäre es im urbanen Raum fast angebrachter. Deswegen reizt mich natürlich auch die 400qm – Bodenzeichnung für diese Ausstellung, die in einem quasi-öffentlichen Raum stattfindet - in einer Multifunktionshalle in Göttingen, die der Kuratorin für dieses Projekt zur Verfügung gestellt wurde. Im Nachbarsaal wird während der Ausstellung ein Konzert stattfinden, und 1000 Besucher, die nicht Kunst, sondern Musik hören wollen, werden über meinen Boden gehen, da er das Foyer umschreibt. Der Gedanke, daß Ihnen kaum etwas anderes übrig bleiben wird, als über meine Zeichnung zu laufen, bevor sie ein Konzert besuchen, gefällt mir sehr. Vielleicht bleibt etwas in Erinnerung.

Mit dem Foto der runden Bodenzeichnung am Ostseestrand , das Du ansprichst verhält es sich etwas anders. Die Zeichnung habe ich auf den glatten, feuchten Sand gelegt, und als Arbeit existierte diese Installation nur ein paar Sekunden, denn einen kurzen Moment später wurde sie von der Brandung überspühlt. Es gibt also nur das Foto als Erinnerung an den perfekten Moment.

Meine Nähe zu Natur, Landschaft und urbanem Raum ist offensichtlich und manifestiert sich in letzter Zeit in der Weise, in dem ich „reale Bilder“ in Form von Fotogtrafie und Video kontrapunktisch zu oder in die Installationen oder Wandarbeiten setze.