Der Flug auf dem Teppich

Heike Weber hat einen Teppich gefertigt - nicht aus Textilien, sondern aus Silikon. Das Silikon bildet auf dem Boden ein Netz aus Verschlingungen und Mustern. Und wie bei jedem Netz sind die Leerstellen dazwischen ebenso wichtig wie das Lineament an sich. Denn so filigran, luftig und leicht Heikes künstlerische Arbeiten oft einher kommen, stets geht es auch um die Gefährdung dieser Schwebezustände, das Doppelbödige der Existenz. Im Blick durch die Maschen eröffnen sich Abgründe. Dies führt zu räumlicher Verunsicherung Bei einer ihrer Raumzeichnungen hat sie das mit einem dazu gehörendem Video einmal selbst kommentiert. Es zeigt einen Schlittschuhläufer, der beim Pirouetten-Dreh zu Boden stürzt. Dies ins Unendliche verlängert als Loop - die Eleganz der Bewegung und die Drastik des Falls. Es gibt einen anderen Teppich, der mir noch sehr präsent ist. Heike fertigte ihn aus strahlend-weißem Silikon. Ich sah ihn in einer zum Ausstellungsraum umgebauten ehemaligen Maschinenhalle von santralIstanbul geheimnisvoll schimmern. Dieser hier ist dunkel, saugt das Licht ein. "Wie Lakritz", sagt Heike. Er lädt nicht auf einfache Weise zum Betreten ein. Eher zum Versenken. Er will umrundet und betrachtet werden. Das Labyrinthische der Verschlingungen nimmt den Blick gefangen. Dieweil meine Augen Achterbahn fahren, wird mein Gedankenflug befeuert. Und indem ich mich in den Teppich versenke, begebe mich auf eine Reise. Gibt es ein eleganteres Fortbewegungsmittel als einen fliegenden Teppich? Und schlummert nicht schon allein in dieser Vorstellung eine Ahnung von Orient? Auf dem Teppich reist die Erinnerung zurück in die Türkei, wo Heike und ich im Herbst 2006 im Rahmen unserer Transfer-Stipendien zwei wunderbare Monate verbrachten. Das Leben spannt sich wie ein Netz. Und in Istanbul ist dieses sicher enger geknüpft als anderswo. So viele Menschen, so viel Gedränge. Alles dicht gepackt mit Eindrücken und Erlebnissen. Andere Sounds, andere Gerüche. Wie ein inneres Band schnurrt wieder die Istiklal mit ihrem geschäftigen Treiben vor meinem geistigen Auge vorüber, das Geschiebe am Taksim und in den Bazaren. In keiner anderen Stadt der Welt prallen so viele Gegensätze aufeinander: West und Ost, arm und reich, urbaner Ballungsraum und dörfliche Strukturen, religiöse und weltliche Wertvorstellungen. Das schafft eine Vielfalt, die atemberaubend ist. Aber man spürt auch oft bis zum Zerreißen eine Spannung dahinter. In der Nachbarschaft der aus Resten gefertigten Gecekondu-Hütten erheben sich Paläste. In den Außenbezirken weiden zwischen Hochhäusern Kühe. Auf Schritt und Tritt stößt man auf jahrhundertealte Zeugnisse diverser Hochkulturen, dazwischen verschiedentlich gigantische Betonbauruinen. Verschleierte Musliminnen mischen sich mit Discogängerinnen und Geschäftsfrauen. Istanbul ist auf zwei Kontinenten erbaut. Mehr als 10 Millionen Menschen leben hier auf engen Raum. Ein unverhältnismäßig hoher Prozentsatz von ihnen ist unter 30. Alle scheinen immerzu in Bewegung… Dies alles war ungewohnt und aufregend zugleich. Doch indem es von allen Seiten auf uns einströmte, powerte es auch ganz schön aus. Deshalb war der stete Austausch mit Heike so wertvoll. Er diente nicht zuletzt auch der Selbstvergewisserung und eigenen Verortung. Dies geschah bei Efes und Cay, oft auch mit Max Sudhues, dem Dritten im Bunde. So ist eine schöne Freundschaft daraus geworden, die die Türkei-Zeit überdauert hat. Ich erinnere mich noch gut, wie Heike einmal von einem ihrer Streifzüge in Istanbuls Viertel mit einem Miniatur-Teppich zurückkehrte - gerade groß genug für eine Puppenstube. Nach und nach sammelte sie weitere solcher Stücke. Einen Plan, was sich damit künstlerisch anstellen ließe, gab es nicht. Aber eine Faszination. Sie galt den Mustern und Ornamenten der Teppiche ganz allgemein, spürte sie doch darin eine Verwandtschaft zu ihrer Arbeit, die so stark von der Zeichnung geprägt ist und als schwungvolles Allover die Raumgrenzen oft auszuhebeln scheint. In der Türkei stieß sie allenthalben auf Dinge, die sie begeisterten - kein Wunder: Jedes geschmiedete Gitter, jede Bodenfliese und selbst die Art, wie die Kaufleute ihre Waren arrangieren, zeugt hier von der kulturellen Kraft, die - nicht zuletzt wegen des Bilderverbots - ins Ornament geflossen ist. In der Rückschau bildet die Zeit in der Türkei selbst eine Art Teppich, zusammengesetzt aus unzähligen Erinnerungen, die sich als Schnörkel und ornamentale Bänder durch mein Bewusstsein winden: Der Fischmarkt an der Galata-Brücke, die Allgegenwart der Katzen, die vielen kostbaren Begegnungen mit den Menschen, der Blick über den Bosporus. Oder - beim gemeinsamen Abstecher nach Izmir - der Rauch, der aus unzähligen Öfen in den kalten Himmel stieg und von einer vom Meer kommenden Brise gegen die Berge gedrückt wurde, so dass er im Halbrund der Stadt gefangen blieb. Und natürlich die Araf-Bar über den Dächern Istanbuls, in der wir oft und überschwänglich tanzten. Heike steckt ja sowieso so voller Kraft und Energie, dass ich mich insgeheim frage, ob nicht ihre repetitive, die Gestik in immer wiederkehrende Bahnen zwingende künstlerische Arbeitsweise manchmal auch dazu dient, sich selbst motorisch zu disziplinieren, um nicht plötzlich vor lauter Elan auseinander zu fliegen. Natürlich ist meine Erinnerung an die Türkei nicht die selbe wie Heikes. Doch es dürfte jede Menge Überschneidungen geben. Und auch für mein Bild von Istanbul gilt, was ich eingangs in Bezug auf ihre Arbeiten sagte: Es hat auch was Doppelbödiges. Einer der Abgründe offenbarte sich uns, als wie einmal attackiert und ausgeraubt wurden. Doch es spricht für sich, dass dies unsere Zuneigung zu der Stadt nicht nachhaltig trüben konnte. Als wir ein Jahr später anlässlich der Abschlussausstellung des Transfer-Stipendiums für zwei Wochen zurückkehrten, war es - wie wir übereinstimmend feststellten - nicht nur ein Besuch in der Fremde, sondern ein bisschen auch das Gefühl einer Heimkehr.

Dies ist das Protokoll meiner Reise, die ich auf Heikes Teppich unternahm. Andere werden vermutlich zu anderen Orten getragen. Und so soll es auch sein. Die Steuerung kann man getrost dem Teppich überlassen. Guten Flug!

Matthias Schamp