Shifting the ground · Heike Webers zeichnerisches Fundament

Oben in den Bergen ist die Luft sehr dünn. Zumeist liegt Schnee. Oft ist auch der Himmel weiß. Wie behäbige frühzeitliche Reptilien erstrecken sich gezackte Felsformationen zu einem gigantischen, scheinbar endlos weiten Panorama. Nirgendwo anders als in den Bergen fühlt man Zeit so sehr als Ewigkeit, und an keinem anderen Ort herrscht diese Stille. Die Installation White Out, die Heike Weber im Frühjahr 2000 im Hedah (Centrum voor Hedendaagse Kunst) in Maastricht realisiert hat, führt weit in solch schwindelnde Höhen hinauf. In Regionen, wo alles weiß ist. In eine im Grunde lebensgefährliche Situation, denn “white out” bezeichnet den Zustand kompletter Desorientierung bei Bergsteigern, der sich bei übermäßig langem Aufenthalt in Gletschergebieten einstellt. Es ist eine extreme mentale und physische Erschöpfung, die zu wahnhaften Bildern führen kann. Wie eine Fata Morgana in der Schneewüste mutet auch die Installation im Hedah an. In einem langgestreckten, gleißend weißen Raum, der vor der Installation nicht nur mit einem neuen Anstrich, sondern auch mit einem weißen Fußboden versehen wurde, zieht sich ringsum an den Wänden das Bild einer Gebirgskette entlang, eine Umrißzeichnung in Rot, die skizzenhaft eine Landschaft mit Vorder-, Mittel- und Hintergrund beschreibt. Kürzelhaft gesetzte kleinere Formen in der Binnenzeichnung bezeichnen Höhe und Tiefe, möglicherweise aber auch Baumgruppen, Sträucher oder schneefreie Flecken.

White Out handelt davon, wie es sich anfühlt und wie es aussieht, wenn man die Orientierung verliert, wenn einem, wie man sagt, der rote Faden abhanden kommt. Dieser wird jedoch buchstäblich insofern wieder aufgenommen, als Heike Weber ihre Zeichnung aus einer roten Plastikleine ausführt, diese also zur Darstellung genau jener alpinen Landschaft verwendet, in der man sich so leicht zu verlieren droht. Das Faszinierende an White Out besteht demzufolge bereits in der subtilen Aufeinanderabstimmung von technischem Vorgehen und inhaltlicher Implikation. Mit den etwa 5 cm vor der Wand um zahllose Silbernadeln geführten Wäscheleinen entsteht eine nahezu illusionistisch wirkende Strichzeichnung einer Gebirgslandschaft. Dabei erinnert die Herstellung des Bildes an den Akt des Bergsteigens selbst: Wie beim Bergsteigen, wo langsam und konzentriert Haken für Haken in die Wand geschlagen wird, und wo man sich allmählich mit Seil und Karabiner vorsichtig fortbewegt, entwickelt sich die Linienführung der Zeichnung kontinuierlich von einem Nagel zum nächsten. Gezeichnet im eigentlichen Sinne wird hier also nicht, und aus der Nähe betrachtet gleicht das Arrangement auch eher einem abstrakten skulpturalen Gebilde. Erst aus einigem Abstand fügt sich dieses zum Bild, wobei die lockere ´Strichführung´ durchaus handschriftlichen Charakter besitzt. Direktheit und Unmittelbarkeit als wesentliche Merkmale von Zeichnung werden hier indes lediglich zitiert. Wie in vielen vorhergehenden Arbeiten auch, greift Heike Weber bei White Out zwar auf das uralte Medium Zeichnung zurück, dies aber nur, um es in einem eigenen Sinne auszuweiten, anzureichern, auszudeuten. Die mythisch besetzte Herkunft von Zeichnung wird dabei dennoch in Erinnerung gehalten, so etwa die Kritzeleien an den Wänden prähistorischer Höhlen, oder die Verwendung der Linie als das traditionell reduzierteste Mittel von Mimesis bis Markierung, oder auch der ursprünglich kommunikative Aspekt von Zeichnung, der sich aus deren Mittelstellung zwischen Schrift und Malerei ergibt.

Der Zeichnung eignet etwas Überzeitliches und Universelles. Ihre Wirksamkeit wurde, anders als die der Malerei, bislang kaum in Frage gestellt.(1) Das mag daran liegen, daß der Begriff von Zeichnung weiter gefaßt ist als der anderer Gattungen und eine größere Freiheit der verwendeten Mittel erlaubt. Deutlich wird dies etwa in einem bei Ernst H. Gombrich referierten Zeichnungsmythos: "In gewissen Teilen Alaskas illustrieren die Eskimomädchen Geschichten, die sie erzählen, mit kleinen Bildern, die sie in Schnee zeichnen, und sie tragen zu diesem Zweck eigene Werkzeuge bei sich, um immer die Möglichkeit zu haben, ihre Erzählungen auf diese Weise interessanter zu gestalten."(2) ´Eskimomädchenhaft´ ist demnach auch Picasso vorgegangen, als er mit Licht zeichnete, oder Max Ernst, als er ein ephemeres Sandbild schuf (Fait pour périr, 1934), das gerade noch fotografiert werden konnte, bevor der nächste Wellenschlag es zum Verschwinden brachte. Aber auch wenn Bulldozer in Landschaften Linienformationen nachziehen, die auf Dennis Oppenheims Daumenabdruck zurückgehen (Identity Stretch, 1970/75), oder wenn Marijke van Warmerdam mit Kondensstreifen von Düsenjets ihre Skytypers (1997) am Himmel anbringt, läßt sich dabei von Zeichnung sprechen. Eigene, geradezu eigenwillige Werkzeuge des Zeichnerischen benutzt auch Heike Weber. Für sie ist Zeichnen längst nicht mehr auf das Anbringen von Linien auf Papier beschränkt, ihre zeichnerischen Werkzeuge können Wäscheleinen, Klebeettiketten oder Haarnetze sein. Die Bevorzugung der grafisch-linearen Bildsprache hat bei Heike Weber indes auch viel mit der Möglichkeit zu tun, das zwischen den Linien Liegende zu thematisieren, das Weiß, die Leere, die als notwendige Folie für die Entstehung von Zeichnung wirksam werden. In White Out zum Beispiel nehmen die weißen Flächen, der Boden, die Wände und die Decke einen wichtigen Stellenwert bei der Bildkonstitution ein. Der auf Augenhöhe positionierte Gebirgszug erhebt sich über den freigelassenen Flächen der unteren Wandzonen, schwebt gewissermaßen im Raum. Das Fragmenthafte von Zeichnung, deren Möglichkeit, Bildzeichen ausschnitthaft auf den leeren Bildgrund zu setzen, nutzt Heike Weber innerhalb der räumlichen Disposition der Zeichnung bei White Out vollständig aus. Aus dem Kontrast von zeichnerisch kursorischer Angabe der Topographie und weißem Raum entwickelt sie eine hintergründige Verunklärung des Betrachterstandpunktes.

Spätestens hier muß nun das Video erwähnt werden, das im Vorraum des Hedah gewissermaßen den Part einer Introduktion von White Out übernimmt. Etwas über Augenhöhe auf die Wand gebeamt, zeigt der als Loop geschnittene Film eine Skiabfahrt im sonnigen Hochgebirge, und zwar aus der Perspektive der um den Hals (der Künstlerin selbst) gehängten Kamera. Dazu hört man den relativ laut eingestellten Originalton, einen arhythmischen Cluster aus schneidenden Windgeräuschen und dem Knarschen der Skier auf hartem Schnee. Da diese Geräusche bei der Betrachtung des roten Bergpanoramas im angrenzenden Raum deutlich zu vernehmen sind, verschmelzen visuelle und akustische Eindrücke: Durch den Sound wird das stille Landschaftsbild in seiner kühlen, distanzierten Ästhetik nachhaltig aus der Ruhe gebracht. Unversehens rutschen menschliche Anwesenheit und körperliche Erfahrung in die Betrachtung hinein. Das schöne, artifizielle Bild wird insofern durch eine tatsächlich verstörende Erfahrung angereichert, als Kameraperspektive und Ton den Eindruck von Gleichgewichtsverlust und körperlicher Anstrengung extrem verstärken. Der verzerrende Blick der um den Hals baumelnden Kamera nämlich suggeriert eine ganz besondere Bewegungserfahrung, täuscht vielfach Fallen, Taumeln und Stürzen vor, Effekte, die aus dem Blick eines ´bewußtlosen´ Apparates resultieren, der, wie in Dan Grahams Body Press (1971) oder in Steve McQueens Video Catch (1999), mechanisch alle sich ihm bietenden Ansichten aufzeichnet und eben nicht wie das Auge solche Eindrücke abfangen und in eine Gesamterfahrung integrieren kann. Auch gibt es im White Out-Video einige Passagen, wo man zunächst den totalen Kollaps vermutet, wo Gipfel und Piste, Berg und Baum, Himmel und Tal heillos durcheinander geraten, wo sich zudem das Tempo merkwürdig verlangsamt, der Film beinahe zum Stillstand kommt, um dann aber doch, wenn die Kamera sich ausgependelt hat, seine Fahrt fortzusetzen. Insgesamt gesehen bezieht White Out seine Wirkung aus dem Nebeneinander von großem Überblick und der singulären Erfahrung der Abfahrtsläuferin. Betrachtet man die große Wandzeichnung nachdem man das Video gesehen hat, fragt man sich unweigerlich, wo in dem gewaltigen Panorama diese individuelle Erfahrung zu verorten wäre, und als was. Irritierend zudem die Vorstellung, eine Fahrt ins Nichts zu unternehmen, denn jede in diesem Bild imaginierte Talfahrt führte unweigerlich ins Leere, landete im "white out".

Gleichgewicht und Bodenhaftung, Stabilität und Destabilität sind die zentralen Themen in Heike Webers gesamter künstlerischer Arbeit. Obwohl es sich dabei bildkünstlerisch gesehen um genuin skulpturale Kategorien handelt (die natürlich auch über eine entsprechende psychologische Metaphorik verfügen), bearbeitet sie diese vor allem im Medium der Zeichnung. Durch die Nähe von Hand und Auge, durch die Gleichschaltung von Hand und Gehirn beinhaltete Zeichnen immer schon beides: den Bezug zum Körper und eine stark ausgeprägte geistig konzeptuelle Komponente, die noch bei Joseph Beuys nachwirkte, für den Zeichnen und Denken dasselbe waren. Heike Webers Ausweitung zeichnerischer Konzepte auf den Raum sowie auf die körperliche Erfahrung von Raum spezifizieren das der Zeichnung innewohnende Verhältnis von Körperlichkeit und Intellekt abermals. Dahinter steht zunächst wiederum unverkennbar skulpturales Denken, und tatsächlich hat sich die erste Raumzeichnung der Künstlerin, Pelikan (1997), aus den vorhergehenden Haarnetzverspannungen entwickelt, so wie diese direkt aus ihren Styroporkuben hervorgegangen sind. Die dabei praktizierte Technik des Wegnehmens, das Schleifen der Styroporplatten bis kurz vor Erreichen ihrer Brüchigkeit, lotet die Grenzen des Materials in seiner stabilsten Form, dem Kubus, aus. Die durchscheinenden, sich bei jedem Lufthauch bewegenden Körper präsentieren sich in ihrer seriellen Anordnung als abgründiger Reflex auf die Heerscharen minimalistischer Boxen und der von ihnen gepredigten puristischen Materialgerechtigkeit. Und wie um die Reduktion von Materialität auf die Spitze zu treiben (ohne jedoch ins Immaterielle abzudriften), arbeitet Heike Weber im Anschluß mit Haarnetzen, einem dehnbaren, flexiblen Hauch von Material. Strukturell ist dieses mit der Zeichnungslinie verwandt, was in zahlreichen Zeichnungen bis hin zu einem pulsierenden Netz-Bildschirmschoner seinen Ausdruck findet. Die mit Haarnetzen realisierten Wandverspannungen setzen auf den Effekt minimaler Sichtbarkeit. Kaum zu sehen, erzeugen sie ein Flirren vor der Pupille, und greifen dennoch radikal in die jeweilige Raumwirkung ein. Das reduktive Element kommt schließlich wiederum in der Technik des Wegnehmens bei Pelikan zum Tragen: Dazu wurden zunächst die Wände des Ausstellungsraumes neu verputzt und dann mit blauer Tinte eingefärbt. Die anschließende Arbeit mit dem Tintenkiller bringt erstmals die parallel geführten, welligen Linien auf wandfüllendes Format und erzeugt die Illusion eines sich bewegenden, aufgeweichten Raumes. Mehr aber noch tritt diese raumverändernde Wirkung zutage, wenn der Boden mit Linien überzogen ist, wie in Salonstücke 6, Städtische Galerie Villa Zanders, Bergisch Gladbach, oder Drop, Kunstverein Arnsberg (beide 1998).

Im Unterschied zu White Out, das stark bildhaft operiert, sind die mit Permanentmarker auf weißem PVC gearbeiteten Fußbodenlineaments sehr viel abstrakter. Dennoch lassen auch sie sich als Bild lesen, und wiederum sind es naturhafte Vorstellungen, die eine große Bandbreite an Assoziationen in Umlauf bringen und in Fluß halten. Wellen in unterschiedlichsten metaphorischen Spielarten sind hier angesprochen, wobei in den Zeichnungen beinahe trompe l´oeil-hafte Effekte, die ein wogendes Auf und Ab suggerieren, gleichberechtigt neben schematischeren Ausführungen stehen. Das damit erzeugte Spektrum ist weit und reicht von realen Naturphänomenen - zu denken wäre etwa an vom Meer gewellte Strandpartien - bis hin zu diagrammatischen Darstellungen von Schallwellen, Druckwellen, Markierungen geographischer Höhenzonen auf Landkarten, etc. Frappierenderweise ergeben sich all diese Bilder, ohne daß eine konkrete Bildidee bemüht oder auch nur angepeilt worden wäre. Im Gegenteil: Alle inhaltlichen Assoziationen verdanken sich nichts anderem als einem relativ einfachen formalen Zeichnungskonzept, das wesentlich in einer halbautomatischen Wiederholung des Gleichen besteht. Nicht ganz unwichtig scheint dabei, daß die spezifische Konfiguration der Linien aus einem persönlichen Zeichenduktus resultiert, bei dem sich manuelle Disziplin und Freiheit des Striches gekonnt abwechseln. Letztlich aber leitet sich das Ergebnis wesentlich aus dem Prozeß des Machens ab, der einer einmal aufgestellten Regel folgt. Ausgangspunkt ist dabei jeweils die vorgefundene architektonische Situation. So entwickeln sich die Linien im Salon der Villa Zanders durch das Nachziehen des Raumgrundrisses von außen nach innen, wobei vorkragende Wandelemente wie Kamin, Pilaster oder Heizkörper den folgenreichen Anstoß für die pulsierenden roten Linien geben. Auf die klassizistische Schinkel-Architektur des Kunstvereins Arnsberg hingegen reagiert Heike Weber in entgegengesetzter Weise: Ausgehend vom Mittelpunkt des Gebäudegrundrisses, der sich nicht in den Ausstellungsräumen selbst befindet, breiten sich die parallel geführten Linien wie Wachstumsringe konzentrisch aus, schwappen in einer Wellenbewegung von innen nach außen. Da die fünf Ausstellungsräume in eckiger U-Form um das Treppenhaus herum angeordnet sind, bindet der kreisförmige Verlauf der Zeichnung die separaten Räumlichkeiten zu einer Art Halbkreis zusammen und nimmt damit eine Neudefinition der streng achsensymmetrischen Architektur vor.

Unten auf dem Boden ist die Luft ebenfalls sehr dünn. In ihrer verführerischen Ästhetik stellen Heike Webers Linienzeichnungen die existenzielle Frage: Kann man dem Boden vertrauen? Eigentlich ist er Grundlage allen Tuns, bestimmt jede Handlung und Erfahrung. Doch Heike Webers Eingriffe lehren: Vom Tritt-Fassen bis zum In-der-Luft-Hängen ist es nicht weit. "Steht der Boden nicht nur für das Hier und Jetzt, sondern bedeutet auch Dauer, kann er dennoch schwanken, wie wir auf ihm schwanken", schreibt Steven Connor im Hinblick auf die Bedeutung des Bodens, des Gehens und Stehens bei Samuel Beckett und Bruce Nauman. (3) Und ganz in diesem Sinne leiten auch Heike Webers Fußbodenzeichnungen zu einer Selbstwahrnehmung der Betrachtenden über, zu einer Überprüfung der eigenen Bodenhaftung - wie in White Out . Als echte in situ-Arbeiten, die für den jeweiligen Ort vor Ort entstehen, thematisieren die Fußbodenzeichnungen das Hier und Jetzt. Obwohl im eigentlichen Sinne Handzeichnungen und damit statische Werke der bildenden Kunst, fordern diese Arbeiten notwendig den sich bewegenden, seine Umgebung und sich selbst - in seinem Schwanken - wahrnehmenden Betrachter. Nicht zufällig wird der Blick auf den jeweiligen Standpunkt und nicht auf Raum oder Wände gelenkt. Und was man dort sieht, mündet vielleicht weniger in eine generelle Infragestellung der condition humaine oder in die Behauptung der Absurdität menschlichen Daseins wie bei Beckett oder Nauman, sondern in eine pointierte Unterspülung alles Starren, Festgefahrenen und Fixierten.

Doris Krystof
Wien im Oktober 2000

Fußnoten:

1 Vgl. dazu Antonia Hoerschelmann, Über Zeichnung, graphische Sammlungen und den erweiterten Kunstbegriff, in: Die Kunst der Linie. Möglichkeiten des Graphischen. Landesgalerie Oberösterreich, Linz 1999, S. 21 - 25.

2 Ernst H. Gombrich, Künstler und Kunstgelehrte, in: Meditationen über ein Steckenpferd. Von den Wurzeln und Grenzen der Kunst. Frankfurt/M. 1973, S. 199

3 Steven Connor, Auf schwankendem Boden, in: Samuel Beckett- Bruce Nauman, Kunsthalle Wien, 2000, S. 8