Sabine Elsa Müller

Unter dem Pflaster liegt der Strand, immer noch

Etwas scheint aufgebrochen. Das silbrige Geäder auf dem blanken Estrich lenkt den Blick nach unten. Woher kommen diese Linien? Dringt eine Flüssigkeit durch unsichtbare Risse im Boden und bildet wild mäandernde Rinnsale, die sich bald zu einem spiegelnden See verbreitern werden? Entgegen dem ersten Anschein handelt es sich um keine flüssige Substanz, kein Blei und auch kein Quecksilber, das sich hier gefährlich ausbreitet. Ganz im Gegenteil. Das bewegte Lineament ist begehbar und macht den Tritt weich und angenehm. Es ist aus einer silbern beschichteten Schaumstofffolie herausgeschnitten, die sogar eigens als Bodenbelag produziert wird. Nur dass diese Folie, die von jedem Baumarkt angeboten wird, eigentlich nicht als künstlerisches Material gilt und normalerweise unter Laminat verschwindet. Für Sinn und Zweck der Folie gibt es sogar ein besonderes eigenes Wort: Trittschalldämmung.

Wenn sich Heike Weber der mehr oder weniger fadenscheinigen, grundbanalen und auf Vortäuschung gewissenhafter Solidität angelegten Oberflächen unseres modernen Daseins annimmt, passiert etwas Erstaunliches. Nicht die erwartete hässliche Rückseite der Fassade erscheint, sondern es öffnet sich eine völlig neue, poetische Welt. Wie Alice bei der Verfolgung des Kaninchens oder die Kinder, die einen Kleiderschrank als Tor in das fantastische Land Narnia benutzen, entdeckt sie ein wundersames Zauberland hinter den Dingen. Aus einer Dämmfolie wird ein metallisch glänzendes Geschlängel auf dem Fußboden, das befürchten lässt, sich jederzeit in lebendige Leiber zu verwandeln. Gleichzeitig schimmert es verlockend und verführerisch wie das Geäder einer Silbermine oder eine kunstvolle Schmuckeinfassung von riesenhaften Ausmaßen. Wen kümmert es, dass die fließenden Linien bloß die stark vergrößerte Projektion eines Fischernetzes wiedergeben? Aus den Fallstricken wird ein vorsichtig zu begehendes, labyrinthisches Wegenetz, das in verschiedene Richtungen weist. Wohin führen diese Wege? Welcher ist der richtige?

Einige dieser Wege enden in den Schattenrissen an den Wänden. Durch die Verdoppelung und die malerische Behandlung der zuunterst liegenden Schicht wirken die Scherenschnitte aus schwarzem Fotopapier tatsächlich wie ein undurchdringliches Dickicht. Die vegetativen Silhouetten, von wirklichen Zweigen und Ästen abgeformt, haben nichts mehr von der biedermeierlichen Harmlosigkeit des klassischen Scherenschnitts. Es geht etwas Rohes und Archaisches von dieser lichtabsorbierenden Schwärze aus, die sich über die spiegelnden Bodenflächen bis weit in den Raum hinein fortsetzt. Unter ihrem Schatten tritt der von der quecksilbrigen Bewegtheit des Untergrundes schon verunsicherte Schritt erst recht ins Bodenlose. Eine beklemmende Bedrohung lauert in diesem Dickicht, den jähen Schrecken jeden Moment gewärtigend.

Andere Wege führen in einen etwas abgesonderten Nebenraum, in dem eine andere Gefühlslage herrscht. Hier werden wir Zeugen eines tragikomischen Geschehens: Auf drei parallel laufenden, zeitlich versetzten Videoloops ist das Erscheinen und ziemlich schnelle Dahinschmelzen dreier kleiner Schneemänner zu beobachten. Offensichtlich ist es Sommer; die Schneemänner stehen inmitten üppiger Vegetation und büßen ihren saisonbedingt unpassenden Auftritt mit ihrem recht sang- und klanglosen Verschwinden – um im nächsten Augenblick wieder aufrecht dazustehen. Durch den Zeitraffer hat es den Anschein, als ob sich die kleinen Kerle bewegen, so dass sie fast lebendig wirken. Und dann sickert irgendwie das Schmelzwasser aus den Screens, so dass wir endlich wissen, woraus sich das wunderschöne silberne Geäder auf dem Boden speist...

Unmittelbar hinter den Zumutungen der Wirklichkeit liegt ein magisches Reich voller Verheißungen, Abenteuer und Möglichkeiten. Heike Weber gehört zu denjenigen, die in der Lage sind, mit Leichtigkeit auf die andere Seite zu wechseln. Glücklicherweise nimmt sie uns dabei mit.