»Vertigo«
Ursula Blickle Stiftung, Kraichtal, 17.3. – 3.6.2001
Ein Interview von Gerald Matt (Direktor der Kunsthalle Wien)

Was bedeutet „Vertigo“ für Sie?

Natürlich denke ich sofort an Alfred Hitchcock, dessen Film „Vertigo“ in letzter Zeit schon öfter Thema in der zeitgenössischen Kunst war. Sein Spannungsaufbau zielt nicht auf Effekte, sondern Hitchcock arbeitet mit einer dosierten Irritation des Zuschauers. Oder, wie es so schön in Reclams Filmführer heißt: „Sein Lieblingsthema ist der Identitätsverlust. Immer wieder werden seine gutbürgerlichen Helden aus der Ordnung ihres alltäglichen Lebens gerissen. Sie werden in Verbrechen verwickelt, werden für Verbrecher oder Spione gehalten oder müssen selbst befürchten, ein Verbrechen begangen zu haben. Die Kamera nimmt oft eine subjektive Position ein und zieht den Betrachter in die Handlung hinein. In der Montage wird die Spannung raffiniert gesteigert und ein ständiger Schwebezustand des Argwohns geschaffen.“

Genau das trifft auf meine Arbeit zu. Mich interessiert, den Betrachter körperlich in meine „Bilder“ einzubeziehen. Ich befasse mich z.B. mit architekturbezogenen Boden- und Raumzeichnungen, auf denen der Besucher geht und durch seine verunsicherten Bewegungen die Installation vervollständigt. Der maßgebliche Faktor für die Erfahrung meiner Arbeiten ist der Raum und die Bewegung des Betrachters im Raum. Raum und Bewegung als Bedingung für körperliche Erfahrung sind für mich von grundlegender Bedeutung.

Durch minimale Raumeingriffe, die primär sinnlich wahrnehmbar sind, aber durch ihre formale Strenge immer rational überprüfbar bleiben, wird der Betrachter herausgefordert. Körper und Ratio werden zu gleichen Teilen gefordert und gehen eine ping-pong-artige Beziehung ein, in dem mal das eine, mal das andere überwiegt. Der Betrachter wird verunsichert, kann sich aber durch seine rationale Kontrolle immer wieder stabilisieren.

In Ihrer Arbeit lösen Sie vertikal, horizontale Koordinaten und rechte Winkel als Konstitutionselemente des menschlichen Raumes auf, und der Betrachter verliert sich in den von Ihnen applizierten endlosen Schleifen, die die Illusion des grenzenlos tiefen Raumes erwecken. Die hypnotische Kraft Ihrer Rauminstallation löst Unsicherheit aus, gleichzeitig läßt sie die Schwere vergessen. Mich erinnern Ihre Arbeiten an barocke Himmelskonstruktionen. Ist das Unendliche zwischen Illusion und Irritation fühlbar zu machen eine wichtige Strategie in Ihrer künstlerischen Arbeit?

Ich glaube nicht, daß meine Zeichnungen die Illusion des grenzenlosen Raumes erwecken. Sie stellen aber seine Grenzen in Frage oder lassen über „Raum“ im Kant‘schen Sinne als eine Form der Anschauung nachdenken. Jede Erkenntnis muß auf sinnliche Erfahrung und deren „Anschauungsformen“ Raum und Zeit zurückgehen.

Mit sehr einfachen Mitteln schaffe ich Bilder, die man sowohl abstrakt inhaltlich als auch assoziativ erzählerisch lesen kann. Also kann man auch assoziativ wieder zurück in die „wirkliche, gegenständliche Welt“.

Den Vergleich mit barocker Illusionsmalerei finde ich sehr interessant, habe aber dennoch ein gespaltenes Verhältnis dazu. Der katholische Kirchenbau des Barocks steigert die schon in der Bauform angelegte Dynamik durch technisch virtuose illusionistische Malerei. Indem sich der Grundriß einer Kuppel von Kreis zum Oval wandelt, paßt sich die Malerei dem architektonischen Gesetz der Entgrenzung an, was im eigentlichen Sinne ja auch auf meine Arbeit zutrifft. Die Blicke werden durch die Kuppel- und Deckenmalerei von dem üppigen Schauspiel angezogen, was sich inhaltlich als „göttliche Offenbarung“ manifestiert. Zwar gehört die Diesseitigkeit zu den Ausgangspunkten der Barockmalerei, bildet aber gleichsam die Vorraussetzung für die Steigerung der Erscheinungen ins Unermeßliche. Je größer die Diskrepanz zwischen Irdischem und Himmlischen, desto erhabener die Offenbarung...

Ich habe persönlich inhaltlich und auch formal keine große Nähe dazu. Mich interessiert nicht, etwas Reales abzubilden, um damit konkrete Inhalte zu manifestieren, sondern die Spannung zwischen Körper und Raum. Und das mit minimalen und „leicht zu durchschauenden“ Raumeingriffen.

Deswegen ist mir eine frühere Epoche, nämlich die Freskomalerei der italienischen Frührenaissance inhaltlich und auch ästhetisch viel näher. Eigentlich waren die Reisen nach Siena und Florenz meine ersten tiefen Erfahrungen mit Kunst, wobei mich zu allererst die große Sinnlichkeit der Bilder berührt hat. Ich liebe die Zeichenhaftigkeit und Einfachheit der Malerei und vor allem auch die Schönheit des Dargestellten. Auch die Symbolik und Allegorie, sowie die Detailfreudigkeit und topografische Genauigkeit begeistern mich immer noch. Es geht in der Malerei der Renaissance zum ersten Mal um die „Entdeckung des Menschen“ als Individuum und die „Entdeckung der Welt“ als Erfahrungs- und Wirkungsbereich des Menschen. Also ging die Tendenz weg von der göttlichen Symbolik, hin zum Weltlichen. Giotto hatte die Fähigkeit, künstlerische Darstellung und sinnliches Erleben in unmittelbaren Zusammenhang zu bringen. Es geht auf einmal um Körperlichkeit und Raum.

Vielleicht ist es etwas vermessen, meine einfachen Linienzeichnungen mit solch großer Kunst in Zusammenhang zu stellen, aber vielleicht erklärt das etwas mein Verlangen nach Doppel- oder gar Mehrdeutigkeit in meiner Arbeit.

Ich will nicht die Illusion zum Thema machen, sondern möchte durch die Illusion den Betrachter irritieren, der dadurch angeregt wird, seine starre Haltung, evt. Klischees, Raumwahrnehmung oder sein Wissen vom Umgang mit Kunst aufzugeben und frei und assoziativ zu denken. Der Körper reagiert als erstes, wie ich damals in Arezzo auf die Schönheit der Fresken von Piero della Francesca reagiert habe. Ich mußte weinen.

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Durch die Integration von Zeichnung in den Raum machen Sie den Raum selbst zur Skulptur. Welche Funktion hat die Zeichnung in Ihrem Werk?

Meine Arbeit befaßt sich mit dem Phänomen der Wahrnehmung im Grenzbereich zwischen Malerei, Zeichnung und Skulptur. Sie entwickelt sich in Korrespondenz mit dem Raum, deshalb gehe ich nicht von einem bestimmten Material aus. Aber dennoch spielt das Medium „Zeichnung“ in meinem Werk durchgehend eine große Rolle. Auch wenn ich mit weißen Haarnetzen Wände verkleide und damit den Raum aufweiche, oder wenn ich ein Video zeige, das den immer gleichen Ausschnitt eines Golfplatzes zeigt, der sich allmählich mit Bällen füllt, hat es eine zeichnerische Komponente. Man sieht immer nur hinzukommende Punkte, die das Hier und Jetzt verkörpern. Zeichnung hat für mich eindeutig etwas mit Zeit zu tun. Die Linie markiert einen Weg von Punkt zu Punkt.

Trotzdem werde ich als Bildhauerin bezeichnet, da sich der Betrachter unmittelbar in der Arbeit befindet. Der Raum ist die Skulptur. Man kann meine Zeichnungen wie einen Film lesen, in dem der Besucher das Tempo selbst bestimmt und auch mit Inhalten füllt.

Zeichnung beinhaltet außerdem einen kommunikativen Aspekt. Sie ist die uns bekannte Urform der Kunst (Höhlenzeichnungen), und man kann sich universell mit Hilfe von Zeichnungen verständigen. Bilder sind eine Form von Sprache. Gerade bei meinen Bodenzeichnungen, die einfach nur den Grundriß des Ausstellungsraumes nachzeichnen, wiederhole ich immer wieder das vorher Getane. Ich beziehe die eine Linie auf die andere, und es ergibt sich auch durch meine persönliche Handschrift ein zusammenhängendes Bild als Energiefeld. Zeichnung hat auch etwas mit Schreiben zu tun. Jeder könnte diese Art von Zeichnung anfertigen, aber niemals würden sich die Zeichnungen gleichen, da sich jeder anders ausdrückt. Jede Handschrift hat ihren eigenen Gestus. Die Zeichnung ist das unmittelbarste Darstellungsmittel im Verhältnis von Körperlichkeit und Intellekt.

Welche Rolle spielen Entmaterialisierung und Transzendenz in Ihrer Arbeit? Sehen Sie sich als abstrakte Künstlerin?

Wenn man abstrakte Kunst als Kunstrichtung auffaßt, die sich vom Gegenständlichen löst und versucht, das Wesen des Objektes, den „geistigen“ Kern darzustellen, würde ich die Frage bejahen. Es geht mir aber nicht um gegenstandsfreie Kompositionen, die ausschließlich Form- Farb- oder Materialwerte darstellen. Ich bediene mich genauso Bildern, wie z.B. bei „white out“, wo ich auf Nadeln mit 5 cm Abstand zur Wand eine aus roter Wäscheleine geknotete Bergkette „gezeichnet“ habe. Es geht mir nicht um das Formale, auch nicht allein um das Abbild, sondern ich benutze das Abbild, um es für mich zu transformieren. Die Arbeit „white out“ habe ich in einem „white cube“ installiert, der keine Fenster, sondern rechteckige Oberlichter hatte. Ich habe einen weißen Boden eingezogen, und man hatte, unterstützt durch das ständig wechselnde Tageslicht, eine starke körperliche Verunsicherung in diesem Raum. Ich glaube, ich habe es geschafft, Natur künstlich körperlich erfahrbar zu machen.

Ich bezeichne meine Arbeit als geschichtenreich und assoziativ, was der abstrakten Kunst wohl eher widerspricht. Ich erlaube mir, jegliche Mittel zu verwenden. Mir geht es um den „Blick dahinter“.

Transzendenz ist so ein großer Begriff, aber vielleicht trifft das sogar zu. Ich entmaterialisiere den Raum, arbeite aber immer mit Gegensätzen. Die Materialien, die ich verwende, sind sehr einfach und profan wie Marker, Wäscheleine, Haarnetze oder Styropor, und ich verwende sie offensiv (unbeschönigt). Aber damit gelingt es mir, immer wieder den Betrachter „auf den Boden“ (der Realität) zurückzuholen.

Steven Connor schreibt in seinem Text „Auf schwankendem Boden“ zum Ausstellungskatalog Beckett/Nauman (Kunsthalle Wien): „Steht der Boden nicht nur für das Hier und Jetzt, sondern bedeutet auch Dauer, kann er dennoch schwanken, wie wir auf ihm schwanken.“ Wer Ihre Installationen/Zeichnungen betritt, tritt ins Leere. Wer sich nicht mehr verlieren kann, vergißt die Zeit. Welche Rolle spielt das Verhältnis von Zeit und Raum in Ihrer Arbeit?

Wie ich schon vorher erwähnt habe, entstehen meine Installationen hauptsächlich zeichnerisch, was für mich inhaltlich eng mit dem Thema Zeit verbunden ist. Nicht nur, daß es eine Weile dauert, die Arbeit zu realisieren, es ist auch in jeder Linie ein Kontinuum an Zeit verborgen. Die Arbeiten sind temporär installiert, d.h., man muß sie erfahren, denn danach werden sie zerstört. Das verstärkt die Wichtigkeit des Hier und Jetzt und verweist auf Vergänglichkeit. Man nimmt aber die Erinnerung an die Arbeit mit, sowie man sie auch in Erinnerung an etwas die Arbeit anschaut. Wenn ich „white out“ betrachte, verbinde ich das mir schon bekannte Gefühl in eine Gletscherwelt zu schauen mit dem, was ich sehe.

Zeit wird aber nicht nur durch die Linie der Zeichnung thematisiert, sondern durch den Betrachter selbst, der auf der Bodenzeichnung geht. Jeder Schritt markiert wie die Golfbälle in meinem Video „Golpo“ einen Punkt in der Zeit. Auf einem Boden gehen heißt „geerdet“ sein, was ich in meiner Arbeit konterkariere und in Frage stelle. Ich wirke der Schwerkraft geistig entgegen und „entziehe“ dem Betrachter den „Boden unter den Füßen“.

Der „schwankende Boden“ hat die Funktion, dem Betrachter seine Präsenz, sein Dasein bewußt zu machen.

Gleichzeitig mit der wirklichen Welt haben wir auch die äußere Scheinwelt aufgehoben“. Was bleibt nach der Befreiung von Schein und Wirklichkeit?

Ehrlich gesagt, verstehe ich die Frage nicht. Befreiung von Schein und Wirklichkeit soll bedeuten, daß es beides nicht gibt?

Meine Arbeiten sind absolut real. Es sind rote Markerlinien auf weißem PVC, bezogen auf den Grundriß eines existierenden Raumes, oder es ist Wäscheleine an der Wand.

Sie „erscheinen“ durch die Verführung des Schönen und des Lichtes entmaterialisiert und überlisten die Ratio. Vielleicht ein bißchen wie in der Liebe, wenn man „sich verliert“.